Von den zahlreichen Eisbergwarnungen in den Tagen vor der Katastrophe nahm Alfred Nourney (1892-1972) wohl keine Kenntnis, ebenso wenig von den Schreien des Ausgucks Frederic Fleet oder der kurz darauf einsetzenden Hektik auf der Schiffsbrücke. Den Abend des 14. April 1912 verbrachte der gebürtige Kölner – auf der Flucht vor außerehelichen Vaterpflichten und unter dem Namen Baron Alfred von Drachstedt reisend – beim Kartenspiel im Rauchsalon, wo er um 23.40 Uhr auch die verhängnisvolle Kollision des Passagierdampfers mit dem knapp zwei Minuten zuvor entdeckten Eisberg miterlebte. „Einen Bums oder so etwas hat’s nicht gegeben, kein Glas fiel um“, erinnerte sich Nourney 1962 in einem Radiointerview. Nur eine leichte Bewegung des Schiffs habe er wahrgenommen.
Der Untergang der Titanic, von dem hier die Rede ist, gilt als das bekannteste Unglück der Seefahrtshistorie, die Faszination für das vermeintlich unsinkbare Schiff ist bis heute ungebrochen. Zahlreiche Legenden, Tragödien und Heldenerzählungen ranken sich um die Katastrophe, die neben Nourney lediglich 711 von mehr als 2200 Menschen an Bord des Luxusliners überlebten. Dessen zutiefst menschliche Geschichte zwischen Aufstieg und Fall erzählt nun eine neue Ausstellung in Köln – anhand von gut 300 Artefakten, raumgreifenden Videoprojektionen und originalgetreuen Nachbauten.
Ein Meisterwerk aus 20.000 Händen
Es ist eine immersive Zeitreise, die ihren Ausgang drei Jahre vor der Jungfernfahrt in Belfast nimmt: In der prestigeträchtigen Werft Harland & Wolff arbeiten im Auftrag der Reederei White Star Line zwischen 1909 und 1912 mehr als 10.000 Ingenieure, Zimmermänner und Schweißer an der Konstruktion des Stahlkolosses. Wobei Malte Fiebing-Petersen, der die Ausstellungskonzeption als Vorsitzender des Deutschen Titanic-Vereins begleitet hat, gleich mit einem von zahlreichen Mythen aufräumt: „Die Titanic“, sagt er, „galt zwar als das größte Schiff seiner Zeit, weil sie etwas schwerer war als ihre ältere Schwester Olympic. In der Außenkonstruktion allerdings – und größtenteils auch im Innern – war sie exakt baugleich und wurde daher auch bei ihrer Jungfernfahrt gar nicht so spektakulär wahrgenommen wie heute.“
(Traurige) Berühmtheit habe die Titanic folglich erst durch ihren Untergang erlangt, ergänzt Fiebing-Petersen und verweist in diesem Zusammenhang auf einen weiteren gern zitierten Irrglauben: Auf Geschwindigkeit nämlich sei das Schiff – anders, als etwa in James Camerons Blockbuster von 1997 behauptet – zu keiner Zeit aus gewesen. Harland & Wolff habe vielmehr versucht, „die Passagiere mit Luxus zu locken, den in dieser Form tatsächlich kein anderes Schiff der Zeit zu bieten hatte“.

Überzeugen können sich die Besucher von dieser Tatsache im Folgenden auch selbst: Von den großformatigen Bildern aus der Entstehungszeit in Belfast und einer Auswahl an damals benutzten Originalwerkzeugen geht es über die Gangway und geflieste Flure mitten hinein in den prunkvollen Speisesaal der ersten Klasse. Teller, Tassen und Vasen sind hier zu finden – wie die Mehrzahl der Exponate zwar von den Schwesterschiffen Olympic und Britannic, in identischer Ausfertigung jedoch auch auf der Titanic verwendet. Und in ihrem kunstvollen Glanz schließlich ein eindeutiger Beleg dafür, dass die White Star Line in Sachen Ausstattung wahrhaft keine Kompromisse einging: „Der Speisesaal der zweiten Klasse“, verdeutlicht Fiebing-Petersen, „war auf der Titanic vergleichbar mit dem der ersten auf anderen Schiffen. Und selbst in der dritten Klasse, wo sich die Passagiere für gewöhnlich selbst verpflegen mussten, wurde das Essen in mehreren Gängen von Stewarts serviert.“
Massenunterkünfte suchte man auf der Titanic ebenfalls vergebens, selbst in der untersten Preiskategorie waren die mit vier bis sechs Betten ausgestatteten Kabinen vergleichsweise privat. Ganz zu schweigen von weiteren Annehmlichkeiten wie elektrischem Licht oder per Wasserabzug betriebenen Toiletten, die sich auf dem Papier allerdings auch in saftigen Preisen niederschlugen: Für das Ticket der dritten Klasse etwa zahlten Reisende umgerechnet gut 1000 Euro – und damit ein durchschnittliches Jahresgehalt –, die Suites der ersten belasteten die Geldbörse sogar mit bis zu 80.000 Euro.

Eine erkleckliche Summe, für die sich die Gutbetuchten im Gegenzug dann aber auch in mehreren Räumen ausbreiten durften, darunter als absolute Rarität auch ein eigenes Bad oder ein separates – und für die Ausstellung originalgetreu nachgebautes – Damenschlafzimmer, in dem die Besucher neben vielen originalen Einrichtungsgegenständen auch der Koffer von Florence Ismay erwartet. Die Gattin des White-Star-Line-Direktors Bruce Ismay reiste wie viele andere Damen ihrer Zunft mit schwerem Gepäck, das zu einem nicht unerheblichen Teil aus den stetig wechselnden Outfits für die verschiedenen Mahlzeiten am Tag bestand.
Das Schiffsunglück überlebte Florence schließlich ebenso wie ihr Mann, der seinen Platz im Rettungsboot allerdings mit massiver gesellschaftlicher Ächtung zu zahlen hatte. Ida und Isidor Straus hingegen wählten einen anderen Weg – und schrieben damit eine von zahlreichen bewegenden Geschichten der Katastrophennacht: „Anders als Bruce Ismay“, erzählt Fiebing-Petersen, „lehnte Isidor Straus den ihm angebotenen Platz im Rettungsboot ab, woraufhin auch seine Frau, die sich bereits gesetzt hatte, zurück aufs Schiff kletterte.“ Ida soll währenddessen ihr Ehegelübde aufgesagt haben; gesehen wurden sie und ihr Mann letztmals, als sie Hand in Hand das Bootsdeck verließen.
Smith’ letzter Befehl: „Seid britisch“
Wobei sich an eben diesem Beispiel auch einer der Gründe für die hohe Opferzahl zeige, wie Fiebing-Petersen erklärt, denn: „Auf der einen Seite gab es tatsächlich nicht annähernd genügend Rettungsboote, auf der anderen hat die Anweisung ,Frauen und Kinder zuerst’ aber auch dazu geführt, dass viele Familien gemeinsam auf dem Schiff geblieben sind, weil sie sich nicht trennen wollten.“
Tragödien dieser Art spielten sich in der Nacht auf den 15. April 1912 zu Hunderten ab; die Geschichten dahinter verleihen der Ausstellung in Köln nun einen sehr persönlichen Zugang: durch Kapitän Edward John Smith beispielsweise, der seine Offiziere auf der Brücke mit den Worten „Be british“, „Seid britisch“, verabschiedete, um mit dem Schiff kurz darauf in den Tiefen des Nordatlantiks zu versinken, oder auch durch das traurige Schicksal der drei zwölfjährigen Liftboys, die laut damaligem englischen Recht bereits als Erwachsene galten – und als solche keinen Platz mehr fanden in den Rettungsbooten.

Nachverfolgen lässt sich der Verlauf des Unglücks daneben allerdings auch ganz unmittelbar, indem man etwa selbst das nachgebaute Krähennest erklimmt, vor dem der Eisberg auf einer Leinwand stetig näher rückt, oder im rekonstruierten Kesselraum ein Gefühl dafür entwickelt, unter welch widrigen Bedingungen die Heizer das Schiff mit bis zu 640 Tonnen Kohle pro Tag in Bewegung hielten.
Eine schrittweise Annäherung an die Katastrophe, deren ganzes erdrückendes Ausmaß sich gegen Ende der Schau auf einem begehbaren Rettungsboot noch einmal verdichtet: Der Besucher wird hier, umgeben von einer raumgreifenden Projektion der Unglücksstelle, Zeuge, wie mit dem abgetrennten Heck um 2.20 Uhr das letzte Stück Titanic in den eisigen Fluten verschwindet. Die herbeigeeilte Carpathia wird in der Folge noch fast zwei Stunden benötigen, bis sie das zurückgelassene Trümmerfeld erreicht. Zu spät für Hunderte Menschen, die seit dem Untergang im minus 2 Grad kalten Wasser treiben.
Für die Überlebende in den Booten, sagt Fiebing-Petersen, seien diese Szenen höchst traumatisch gewesen. Kaum jemand konnte das Erlebte später vergessen, auch Alfred Nourney nicht, der heute unweit der Ausstellungshalle auf dem Melatenfriedhof begraben liegt. In besagtem Radiointerview erklärte er 1962, das Schreien der Ertrinkenden habe er wie einen „einzigen Sirenenton“ wahrgenommen. „Das war wohl das Schlimmste, was beim ganzen Untergang dabei war, dieses furchtbare Schreien von den Leuten.“
Die Ausstellung „Titanic: Eine immersive Reise“ ist in der Oskar-Jäger-Straße 99 in Köln noch bis zum 29. Juni zu sehen. Für den Besuch muss vorab ein Zeitfenster gebucht werden unter https://titanic-experience.com