Freiluftausstellung Lahnstein
Forestival oder: Ein bisschen Frieden 
Carina Talmann lädt ein, sich mit verschiedenen transpartenten Platten ganz individuelle Aussichten zu schaffen.
Claus Ambrosius

Dutzende Stationen zum Erkunden auf zwei Wanderwegen und viel mehr: In einem Tal bei Lahnstein treffen noch bis Sonntag zum fünften Mal Kunst und Natur aufeinander.

Lesezeit 4 Minuten

Wer das Forestival besucht, kann schon den Weg dorthin zum Erlebnis machen. Ist man – natürlich zu Fuß, das ist den Veranstaltern wichtig, im ehemaligen Lahnsteiner Bergarbeiterstadtteil Friedrichssegen einmal auf die Straße mit dem wohlklingenden Namen „Im Süßgrund“ abgebogen, läuft man ein Stück bundesdeutscher Nachkriegs-Alltagskultur entlang. Wie an einer Perlenkette bergauf gefädelt haben sich Menschen hier ihre Wohnträume verwirklicht, längst sind die meisten Nachkriegsbauten saniert, überbaut, ergänzt. Fast scheint es, als hätten die Anwohnerinnen und Anwohner ihre Anwesen für die Forestival-Woche besonders herausgeputzt: Wo englischer Rasen wächst, ist er auch genauestens getrimmt, in den Vorgärten lassen sich die einzelnen Jahrzehnte und Deko-Moden recht genau datieren. Vom Bauerngarten-Ambiente mit Retrocharme reicht das bis zu kleinen Extravaganzen wie einem barocken Brunnen, von einer großen Buddha-Statue bis zum akkurat versiegelten Steinboden aus jüngster Vergangenheit.

All das ist eine Art der Kommunikation mit und in der Natur, die einen Kilometer weiter oben am Hang in diesem Tal seit 2021 einmal pro Jahr konzentriert und unter dem Titel „Forestival“ stattfindet: In diesem Jahr sind wieder mehr als 80 Kunstschaffende aus vielen Ländern dabei, haben ihre Positionen entlang zweier Wanderwege aufgebaut, in die Bäume gehängt, auf Wiesen ausgerollt, in die Erde gesteckt. Dabei macht das launische Juniwetter die Kunstwerke schon traditionell zum „Work in progress“, wenn Wind und Regen auf filigrane Arbeiten nicht die geringste Rücksicht nehmen.

Im Base-Camp des Forestival zelten Künstlerinnen und Künstler, hier finden zahlreiche Zusatzveranstaltungen des Rahmenprogramms und Begegnungen statt.
Claus Ambrosius

Seit der von Anfang an von Künstlerinnen und Künstlern wie auch vom Publikum begeistert aufgenommenen Idee hat sich das Forestival rasch erstaunlich profiliert und auch professionalisiert: Für die neun Tage im Juni ist eine ganze Menge an Infrastruktur vorzuhalten, längst ist von der Verpflegung über Workshopangebote bis zur Kinderbetreuung für kunstinteressierte Eltern eine ganze Menge an Service rund um das Kernangebot entstanden.

Vor allem aber hat sich beim Forestival eine Atmosphäre etabliert, die sich vom „normalen“ Kunstbetrieb erfrischend abhebt. So platt das auch klingen mag: Gerade in diesen Tagen, in denen kriegerische Auseinandersetzungen die Nachrichten dominieren, bietet das Forestival nicht nur ein spannendes Kunst- und Naturerlebnis, sondern überhaupt ein bisschen Frieden. Die Grüßquote auf den Kunstrundwegen ist mindestens so hoch wie in der deutschen Wandercommunity, viele Einzelbesucher finden sich vor einzelnen Werken zu Diskussionen zusammen und gehen zumindest ein Stück des Weges gemeinsam. Es ist eben doch etwas anderes, ob man Kunst im gewohnten Galerie- oder Museumsumfeld rezipiert – oder in der sich ständig wandelnden, einfach nicht zu ignorierenden Natur.

Was würde besser zum Forestival passen als Pan (rechts), der Gott der Hirten und der wilden Natur der griechischen Mythologie? Der Holzbildhauer Johannes Bender hat ihn und den danbenstehenden Engel geschaffen.
Claus Ambrosius

Denn eben diese Natur wird in vielen Positionen entlang des Weges zur Hauptdarstellerin – auch dann, wenn etwa Chris-Ailm Beract eine riesige, erdfarbene Schreibe in einen Baum hängt, die an einen gewaltigen Traumfänger erinnert. Oder wenn Elke Fries einen ganzen Schwarm von Holzvögeln mit Metallflügeln auf Stäben platziert und so auf freiem Feld Teil einer ganz organischen Inszenierung wird. Ohnehin ganz mit der Natur verschmolzen wirken die zahlreichen Arbeiten mit und aus Holz – bis hin zu den aus Baumstämmen geformten Figuren des Holzbildhauers Johannes Bender, die man nur als lebensgroß beschreiben kann, wenn man sich anmaßt, die wahren Ausmaße des Gottes Pan oder des daneben stehenden Engels zu kennen.

Wer einen ganz eigenen, einmaligen Blick auf die Natur haben will, bekommt dazu von Carina Talmann eine Gestaltungshilfe in die Hand: Auf zwei Holzstelen hat sie unterschiedlich bedruckte, durchsichtige Platten platziert, mit denen man sich ganz eigenen Durch- und Einblicke verschaffen kann: „Erstelle dein eigenes Kunstwerk“, fordert eine Tafel auf. Das lassen sich die Kunstwandernden nicht zweimal sagen und verewigen auch diese Station emsig auf ihrer Fotosafari, auf der auch Carl Thomas Zerolds Installation aus einem alten Küchenschrank, einem Schwingsessel und eines Tisches samt Teetasse zum begehrten Selfie-Umfeld wird.

"Eva's Integration" von Firouzeh Görgen Ossouli nimmt Stellung zur Stellung der Frau in der männlich dominierten Gesellschaft - und macht den jungen Stamm hinter sich unversehens zum Baum der Erkenntnis.
Claus Ambrosius

Doch all das soll keinesfalls nahelegen, dass das Forestival unpolitisch sei – ganz im Gegenteil. Am Kunst-Basecamp am Fuße des Festivalgeländes fordern Schilder auf: „Make art not war“ – „Macht Kunst, nicht Krieg“. Ein auf einem Stuhl drapiertes Skelett hält die entsprechende Druckplatte in seinen knöchernen Fingern.

Und die mit Stacheldraht umgürtete, nackte Kleiderpuppe mit aufgesetzten Brüsten und aufgeplusterten, roten Lippen von Firouzeh Görgen Ossouli ist inspiriert von Simone de Beauvoirs Satz: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ „Eva’s Integration“ hat die Deutsch-Iranerin ihr Werk genannt, das anschaulich das Verhältnis der männlich dominierten Gesellschaften zu Frauen verdeutlicht. Der Bezug des Forestivals zur Natur ist aber auch hier grundlegend – denn mit dem roten Apfel, den diese Eva an einer Eisenschnur hält, wird der junge Stamm, an den sie gekettet ist, unversehens zum Baum der Erkenntnis.

Das Forestival lädt noch bis zum Sonntag, 22. Juni, zur Ausstellung in der Natur. Der Eintritt ist frei, das Festival finanziert sich über Spenden. Infos auch zur Anreise und zum Rahmenprogramm online unter www.forestival.de