Ist man mit sieben eigentlich noch jung? Und mit 40 schon alt? Diese Fragen stehen nicht unmittelbar im Fokus bei den diesjährigen Heimat Europa Filmfestspielen in Simmern (Rhein-Hunsrück-Kreis). Und doch passen sie irgendwie ins Thema: Weil das Motto in Anlehnung an den Kultursommer „Forever Young?“ lautet – und viele Filme im Programm folglich Geschichten vom Kindsein oder Erwachsenwerden erzählen. Weil die Reihe selbst im August ihre siebte Ausgabe feiert und das Pro-Winzkino als Ausrichter sogar bereits seinen 40. Geburtstag.
Und schließlich auch, weil man bei den Filmfestspielen seit jeher daran arbeitet, dass das Kino weiterhin „jung bleibt“, daneben auch die titelgebende Heimat „ständig neu entdeckt und erfunden“ werden müsse, wie der Vorsitzende des Vereins Pro-Winzkino, Wolfgang Stemann, betont. Ein nicht ganz einfacher Balanceakt zwischen Tradition und Zukunftsgewandtheit, der dem Festival allerdings, so viel sei vorweggenommen, auch in diesem Jahr wieder bravourös gelingt. Mit einem Programm, das den thematischen Handlungsrahmen mit der gewohnten Neugier hinterfragt und erweitert, sich dadurch dem Stillstand versagt und passend hierzu auch wieder einige Innovationen parat hat.
Mit den Lieblingsfilmen durch die Geschichte
Da wäre zunächst einmal die neue Sektion „40 Jahre Pro-Winzkino“, in der die neun Mitglieder des gleichnamigen Vereins ihre Lieblingsfilme auf die Leinwand bringen, darunter Paolo Sorrentinos Meisterwerk „Ewige Jugend“ (2015), der Westernklassiker „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968) und – natürlich – Woody Allens Komödie „Der Stadtneurotiker“ (1977), seinerzeit der erste Film, der nach der Pro-Winzkino-Gründung in Simmern gezeigt wurde.
Neu ist weiterhin auch der mit 500 Euro dotierte Preis der Jugendjury, in dem Schüler aus der Region mit jungem Blick ihren besten Film küren, oder der geplante Besuch einer finnischen Delegation aus Simmerns Partnerstadt Mänttä-Vilppula, die aus dem hohen Norden gleich auch ein paar sehenswerte Produktionen mitbringt, darunter etwa jene mit dem schönen Titel „Tulitikkutehtaan Tyttö“ (oder einfacher: „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“), die am 20. August zu sehen ist.
„Winnetou“ statt Preisverleihung
Ungewohnt ist zugleich allerdings auch der Termin für die Vergabe des Hauptpreises Edgar. Weil nämlich die Ein-Frau-Jury – namentlich Schauspielstar Jasmin Tabatabai – zum Festivalabschluss verhindert ist, wird die begehrte Trophäe in diesem Jahr bereits am Vortrag (22. August) verliehen. Mit der Konsequenz, dass der 23. August nun ganz im Zeichen eines „Kehraus-Specials“ steht, bei dem neben Westernband- und Gospelkonzerten auch „Winnetou I“ (1963) und Michael Bully Herbigs Klamaukfeuerwerk „Das Kanu des Manitu“ (2025) auf dem Programm stehen.
Eröffnet wird das Festival derweil am Freitag, 8. August, im temporären Open-Air-Kino auf dem Simmerner Fruchtmarkt – und zwar gleich mit einem der Programmhöhepunkte, denn: Auf die Leinwand kommt ab 21.30 Uhr nicht weniger als eine gelungene Hommage an den weltberühmten Universalgelehrten Gottfried Leibniz. Und damit der aktuelle Film von Edgar Reitz, den der im Hunsrückort Morbach geborene Regisseur und geistige Vater der Filmfestspiele im stolzen Alter von 92 Jahren realisiert hat.
Regiedebüts dominieren den Wettbewerb
Ob der Urheber der „Heimat“-Reihe dann am Eröffnungswochenende auch persönlich anwesend sein wird, entscheidet sich nach Angaben der Veranstalter kurzfristig und hängt im Wesentlichen von seinem gesundheitlichen Zustand ab. Fest steht hingegen schon, dass neben Co-Drehbuchautor Gert Heidenreich auch „Leibniz“-Hauptdarsteller Edgar Selge nach Simmern reist, um dort am Samstag, 9. August, ab 18 Uhr unter anderem sein Romandebüt „Hast du uns endlich gefunden“ vorzustellen.
Mindestens ebenso spannend ist schließlich auch das Teilnehmerfeld der um den Hauptpreis konkurrierenden Festivalbeiträge. Nicht zuletzt, weil darin – abgesehen von Julie Delpys „Les Barbares“ und Christian Petzolds „Miroirs No. 3“ – ausschließlich Regiedebüts von (noch) unbekannten Filmemachern und -macherinnen vertreten sind. Unter denen exemplarisch etwa das polnische Drama „Under the Volcano“ zu nennen wäre, in dem Regisseur Damian Kocur eine ukrainische Familie zeigt, die während des Teneriffa-Urlaubs vom Kriegsausbruch in ihrer Heimat erfährt und über Nacht von Touristen zu Flüchtlingen wird.
„Solange dieser Ort es Menschen ermöglicht zusammenzukommen, wird er immer jung bleiben.“
Edgar Reitz über die Kraft des Kinos
Oder Mascha Schilinskis „In die Sonne schauen“, eine berührende Erzählung über vier Generationen von Frauen auf einem Hof in Sachsen-Anhalt, die bei den Filmfestspielen in Cannes überaus positiv aufgenommen wurde. Oder Charlène Faviers Porträt über Oksana Schatschko, die früh verstorbene Mitgründerin der feministischen Femen-Gruppe, die die Veranstalter ebenfalls „nachhaltig bewegt und filmisch begeistert“ habe, wie Peter Huth vom Pro-Winzkino sagt.
Viel geboten wird daneben allerdings auch in der Sektion Dokumentarfilme, in der – Stichwort bewegend – Martina Priessner mit „Die Möllner Briefe“ zum Beispiel den Brandanschlag von Neonazis im schleswig-holsteinischen Mölln aufgreift, bei dem 1992 drei Menschen sterben, die Hinterbliebenen erst mehr als 20 Jahre später von Tausenden Mut spendenden Zuschriften erfahren, weil diese von der Stadtverwaltung seinerzeit nicht weitergegeben wurden an die zunächst wohnungslose Familie.
Wenn der Film zur Heimat wird
„Facing War“ von Tommy Gulliksen indes liefert spannende (private) Eindrücke von Jens Stoltenbergs letzten Monaten im Amt als Nato-Generalsekretär, während die Family-Sparte aus Sicht Peter Huths vor allem dank „starker Kinderfilme abseits des Disney-Mainstreams“ glänzt. Sehr eindrücklich nachvollziehbar etwa auch in der niederländischen Produktion „Superkräfte mit Köpfchen“, in der der gehbehinderte Lev ungeahnte Fähigkeiten entwickelt und mit seinem Idol Healix kurzerhand die Welt rettet.
Was das Festival in Addition all dessen schließlich ausmacht, fasst dann kurz und treffend auch noch einmal Programmkurator Janis Kuhnert zusammen, der Heimat auch im Film selbst verortet, das Medium als Sehnsuchtsort bewegter Bilder sieht, die sich tief ins (kollektive) Gedächtnis einbrennen. Edgar Reitz wiederum drückt es im Programmheft auf seine Art aus – und schreibt: „Solange dieser Ort (das Kino) es Menschen ermöglicht zusammenzukommen, wird er immer jung bleiben.“ Doch dafür brauche es Filme, „die es wagen, selbst zum Ereignis zu werden“. Und genau die liefern die Heimat Europa Filmfestspiele auch in diesem Jahr wieder zuverlässig.
Das vollständige Programm, das etwa auch durch mehrere Konzerte und Gastspiele in Orten rund um Simmern ergänzt wird, findet sich online unter www.heimat-europa.com. Dort können auch Tickets erworben werden.
Die Festspiel-Filme in den Hauptsektionen
Die Wettbewerbsfilme:
- „Les Barbares“ (9. August)
- „Vermiglio“ (10. August)
- „Rita“ (11. August)
- „Rote Sterne überm Feld“ (12. August)
- „Under the Volcano“ (13. August)
- „Little Trouble Girls“ (14. August)
- „Christy“ (15. August)
- „In die Sonne schauen“ (16. August)
- „Miroirs No. 3“ (17. August)
- „Ninja Motherf*cking Destruction“ (18. August)
- „Home Sweet Home“ (19. August)
- „Oxana“ (21. August)
Dokumentarfilme:
- „Silent Observers“ (9. August)
- „Timestamp“ (13. August)
- „The Mountain Won’t Move“ (14. August)
- „Im Prinzip Familie“ (15. August)
- „Facing War“ (16. August)
- „Trog“ (17. August)
- „Noch lange keine Lipizzaner“ (18. August)
- „Die Möllner Briefe“ (19. August)
Family:
- „Flow“ (9. August)
- „Lars ist LOL “ (10. August)
- „Grüße vom Mars“ (14. August)
- „Superkräfte mit Köpfchen“ (15. August)
- „Bambi – Eine Lebensgeschichte aus dem Walde“ (16. August)
- „Zirkuskind“ (17. August)
- „Lioness – Die Löwin“ (21. August)
- „Amelie rennt“ (22. August)
- „Tafiti – Ab in die Wüste“ (23. August)