Manchmal passt alles zusammen: Ort, Thema, die handelnden Personen. Und auf einmal entsteht aus einer Idee ein Projekt, das in Größe und Strahlkraft nicht einmal im Traum erhofft wurde. Als der Kultursommer Rheinland-Pfalz 2019 unter dem Motto „Heimat(en)“ stand, ging auch die Kreisstadt Simmern an den Start – mit einem recht naheliegenden Projekt. Der Ort: Hier hatte der Regisseur Edgar Reitz, der dem Hunsrück und seiner Geschichte mit seiner „Heimat“-Saga ein filmisches Denkmal gesetzt hat, Abitur gemacht. Das Thema: einerseits Reitz' „Heimat“-Universum, aber auch andere Heimat(en) in ganz unterschiedlichen Filmen aus aller Welt. Die Personen: neben dem Schirmherren Reitz die leidenschaftlichen Cineasten des Pro-Winzkinos in Simmern und ein ebenso engagiertes Projektteam.
Auf Jahre hin gesichert
Das Ergebnis, die „Heimat Europa“-Filmfestspiele, waren dermaßen erfolgreich, dass aus der als einmalig geplanten Aktion eine Institution wurde, die im August bereits zum sechsten Mal an den Start geht. Und nicht zum letzten Mal: Die Stadt hat ihren jährlichen Zuschuss bis 2029 auf beachtliche 60.000 Euro erhöht, auch der Kultursommer hat seine Förderung auf aktuell 44.000 Euro hochgefahren.
Und was kommt dabei raus? „Filmfestspiele, die ganz besonders sind und viel liebenswerter als die großen der Welt“, sagt Sabine Schultz, die seit vergangenem Jahr künstlerische Leiterin ist und nun gemeinsam mit Programmkurator Janis Noah Kuhnert den Fahrplan für den sechsten Festivaljahrgang vorstellte. Schulz hat den Vergleich: Sie war lange Jahre für das ZDF auf internationalen Filmfestivals unterwegs und kann von ihrem dort geknüpften Netzwerk jetzt auch für Simmern profitieren.
Wenders und Reitz vorab fürs Festival interviewt
So hat ihr beispielsweise Wim Wenders, dessen „Lisbon Story“ in der „Classics“-Reihe am 15. August gezeigt wird, vor 30 Jahren zur Filmpremiere in Cannes für ein Interview Rede und Antwort gestanden – und jetzt nochmals für „Heimat Europa“. Das Interview wird in Simmern vor der Aufführung des Films gezeigt werden. Und auch mit dem Schirmherrn Edgar Reitz, der in diesem Jahr nicht selbst zum Festival kommt, hat Schultz ein Interview vorab geführt: Der 91-Jährige grüßt das Publikum und erläutert auch seine neue Doku „Filmstunde_23“, die in Simmern gezeigt wird.
Sie schließt an eine Doku an, die er vor 50 Jahren gedreht hat und die auf einer seiner frühsten Ideen beruht: Er habe sich immer gewünscht, dass Film in der Schule behandelt werden sollte. Das sei leider in Deutschland nicht der Fall – und man sehe über ein Leben hin Tausende Filme, sei aber in der Regel in Sachen Filmkunst ein Analphabet. So hatte er sich vor 50 Jahren in einem Münchner Gymnasium ans Werk gemacht und Film unterrichtet – und sei vor Kurzem einer Dame begegnet, die damals als 13-Jährige dabei war. Noch heute treffe sie sich mit den Freundinnen von damals – so war die Idee zur neuen Doku geboren, die Teil der diesjährigen Reitz-Hommage ist.
Eine zweite Hommage ist Nicolette Trevitz gewidmet, die – so ist es Brauch in Simmern – als Alleinjurorin den Edgar-Filmpreis an einen der 13 Kandidaten im Wettbewerb ergeben wird. Dass in diesem Jahr eine Jurorin entscheidet, passt zum Teilnehmerfeld: Neun der Wettbewerbsfilme wurden von Frauen gedreht, vier von Männern – dieses diesjährige Verhältnis dürfte weithin einzigartig in der Filmlandschaft sein, und Sabine Schultz und Janis Noah Kuhnert freuen sich schon auf ein „Festival der starken Frauen vor und hinter der Kamera“.
Von Sehnsucht bis Flucht
Das Heimat-Thema zieht sich in allen denkbaren Spielarten durch die Wettbewerbsfilme, sei es als Sehnsucht nach etwas Früherem – oder auch als etwas Verlorenes, denn auch Flucht und Migration sind, längst nicht nur beim Filmfestival in Simmern, das große Thema unserer Zeit. Dafür hat Schirmherr Edgar Reitz schon vor 30 Jahren bei seinem Film „Die zweite Heimat – Chronik einer Sehnsucht“ großes Gespür bewiesen, der im Rahmen seiner Hommage gezeigt wird. Im Interviewfilm betont er, wie wichtig ihm schon damals war, das Publikum daran zu erinnern, dass vor vielen Jahren das Leben in Deutschland so unerträglich war, dass die Menschen ihre Heimat verlassen mussten.
In diesem Jahr wird dem Beginn der Auswanderung von Deutschen nach Brasilien – unter ihnen viele aus dem Hunsrück – vor 200 Jahren gedacht: „Die Überfahrt selbst haben wir im Film nicht thematisiert“, erklärt Reitz. Wohl aber die Umstände, die dazu führten – damit man besser nachvollziehen kann, warum Menschen den gewaltigen und lebensbedrohlichen Schritt in die Fremde wagen.
So sind die „Heimat Europa“-Filmfestspiele diesmal neben aller südlichen Ausgelassenheit im Film- und Rahmenprogramm im Angesicht des Kultursommermottos „Sterne des Südens“ inhaltlich sehr tiefgreifend. Und ganz am Puls unserer Zeit, die die Frage nach der einen Heimat oder auch nach mehreren Heimaten nachdrücklich stellt. Claus Ambrosius
Alle Infos zu den Filmen, zum umfassenden Rahmenprogramm und zum Vorverkauf online unter www.heimat-europa.com