Mehr als 22 Millionen Menschen leben laut aktuellster Statistik in Deutschland als Single. Zwei von ihnen leben als Nachbarn unter einem Dach, Lisbeth Reimers, eine ältere Dame, und der Polizist Reinhard Peters. Seit zwei Wochen stattet Peters seiner Nachbarin allabendlich einen Besuch ab, allerdings unfreiwillig: Frau Reimers ruft allabendlich bei der Polizei an und beschwert sich unter falschen Namen über Lärm, der angeblich aus ihrer Wohnung komme. Doch wenn ihr Nachbar nach dem Dienst in Zivil bei ihr vorbeischaut, ist da nichts zu hören – auch nicht an diesem Abend.
„Falscher Hase“ ist ein Zweipersonenstück des Dramatikers David Gieselmann, der im vergangenen Jahr die Joseph-Breitbach-Poetikdozentur der Stadt Koblenz in Zusammenarbeit mit der Universität Koblenz innehatte. Das Stück wurde seit der Uraufführung im Jahr 2011 bereits von einigen Theatern gespielt – und es hat hat Gieselmanns Ruf des treffsicheren Komödienschreibers mit etabliert.
Wobei „Komödie“ eine interessante Beschreibung der eineinhalb Stunden langen Produktion ist, die dem Polizisten Peters den Boden unter den Füßen mindestens ebenso wegzieht wie dem Publikum. Denn nichts ist in diesem Stück, wie es zunächst scheint – und der oft blitzartige Wandel der Geschichte dreht immer schnellere Runden bis zu einem furiosen Finale, bei dem man schließlich völlig alleingelassen ist bei der Frage: Was ist hier wirklich geschehen?
“Notrufmissbrauch" oder doch etwas ganz anderes?
Zunächst scheint die Situation klar: Eine ältere Frau ist einsam und kämpft mit ziemlich extravaganten Mitteln um Aufmerksamkeit: „Notrufmissbrauch“ als Schrei um Beachtung. So erklärt es sich und Frau Reimers zunächst auch der freundliche Polizist, der langsam die Geduld ob der täglichen Kontrollbesuche verliert. Als er gegen erstes Widerstreben im Wohnzimmer von Frau Reimers Platz genommen hat, beginnt das Verschieben der Ebenen – denn diese alte Dame ist alles andere als dement: Wie das sich entwickelnde Gespräch, das immer wieder Verhörqualitäten entfaltet, schnell zeigt, weiß sie fast alles über den weit jüngeren Mann, kennt seine (wenigen) Freunde, seine Vorlieben und Gewohnheiten. Ihre eigene Geschichte, die sie vorträgt, nimmt hingegen immer fantastischere Züge an: Postkarten von angeblichen Kindern, die in Indien leben, sind der erste Streich – der genauso wahrscheinlich ist wie die angeblich regelmäßigen Entführungen durch Außerirdische.
Und das Ende? Das kann man entweder als hochtragisch interpretieren, wenn aus einem Diskussionsort möglicherweise ein Tatort geworden sein könnte – oder eben auch nicht, weil nichts mehr sicher ist auf diesem dünnen Eis.
Das alles klingt absonderlicher, als es sich auf der kleinen Probebühne 2 im Koblenzer Theater anfühlt, denn dort werden die immer wieder absurden Momente des Stückes und das Abgleiten ins Irrationale durch zwei starke Darsteller umgesetzt: Kammerschauspielerin Tatjana Hölbing setzt das blitzschnelle Umschalten in der Geschichte hochpräzise um, wechselt ohne Übergang von weinerlich-bemitleidenswert auf messerscharf-analytisch. Dieser Dame traut man alles zu – und kann deswegen nur Angst haben um den eher unbedarften jüngeren Polizisten.
Dem gibt David Prozenc ein starkes Profil: Die Rolle ist weniger facettenreich angelegt als die seiner Widersacherin, wird hier aber zum immer ernstzunehmenderen Sparringspartner. Dabei hat Regisseur Woody Mues, seit 2021 Regieassistent am Thalia Theater, mit seinen beiden Darstellern intensiv gearbeitet: Auch die explosiveren Dynamikbögen sitzen exakt, der verbale Schlagabtausch spielt virtuoses Pingpong an diesem Abend.
Ein eingebauter Bühnenraum
Eine echte Überraschung, die man auf der kleinen Probebühne keinesfalls erwarten würde, ist das Bühnenbild von Anton von Bredow: Er hat einen ganzen Raum eingebaut, der das gerade mal drei Dutzend Menschen umfassende Publikum sowie die Darsteller mit einschüchternder Holzvertäfelung umgibt und durch eine großen Scheibe zur Wohnung von Frau Reimers trennt. Man fühlt sich abwechselnd wie in einem Verhör, in einem Gefängnis oder gar einem Aquarium. Der aufwendige Aufbau erschließt noch weitere Spielorte sowie Auf- und Abtrittsmöglichkeiten. Das ist großes Ausstattungskino auf kleinster Fläche, das von der Musik von Lea Geue auch kinotauglich rhythmisiert wird. Ein temporeiches Kammerspiel, in dem alle Gewissheiten über Bord geworfen werden, und in dem es trotzdem oder gerade deswegen immer wieder auch etwas zum Lachen gibt.
Termine und Tickets unter www.theater-koblenz.de