Premiere Koblenzer Inszenierung verpasst Tony Kushners "Engel in Amerika" eine gegenwärtige Relevanz
"Engel in Amerika" in Koblenz: Von wegen "Es war einmal"
Die Bühne im Theater Koblenz mutet in der Inszenierung von Tony Kushners „Engel in Amerika“ wie ein Krankenhaus an. Aus den Behandlungsnischen heraus entwickelt sich die Geschichte um Prior (Christof Maria Kaiser, von links), Louis (Ian McMillan), Joe (Klaus Philipp) und Harper (Dorothee Lochner). Fotos: Baus/Theater Koblenz
Matthias Baus

Koblenz. Es ist nicht ohne Risiko, Tony Kushners Schauspiel „Engel in Amerika“ aus dem Jahr 1991 heute auf die Bühne zu bringen. Noch bei der Koblenzer Erstaufführung 1997 lag über dem Stoff des vielfach ausgezeichneten Stückes die reale Drohung: Fast jede Aidsdiagnose ist ein sich zeitnah vollstreckendes Todesurteil. 21 Jahre später muss die jetzige Neuinszenierung am Theater Koblenz ohne diese das Publikum umtreibende finale Brisanz in der Wirklichkeit auskommen.

Aids ist zwar nicht geheilt, die lebenslange Behandlung der Krankheit oft quälend – aber für die meisten Betroffenen kann das Leben inzwischen doch noch Jahrzehnte währen. Aus diesem Umstand ergibt sich allerdings auch eine neue Chance für das Stück. Die ergreift Gastregisseur Carlos Wagner mit beiden Händen, um nicht bei einer Aids- und Schwulentragödie unter dem Motto „Es war einmal“ zu landen: Konzentration auf die Charaktere unterschiedlicher Menschen einer Gegenwart, die sie zu Gehetzten, Unfreien, sich selbst und der Mitwelt Normalität oder Stärke nur vorspielenden Zeitgenossen macht.

Im Zentrum stehen zwei Paare und eine Einzelperson. Da wären die unglücklichen Eheleute Joe und Harper. Er (Klaus Philipp) kleinbürgerlicher, schüchterner, konservativer Anwalt und sittenstrenger Mormone, der sich seine latente Homosexualität nicht eingestehen will. Sie (Dorothee Lochner) hat sich im Schlafzimmer von der Welt abgeschieden, versinkt immer tiefer in Tablettensucht, Identitätskrise und Paranoia.

Angst vor dem Siechtum

Dann ist da das bis eben glückliche Schwulenpaar Prior und Louis. Ersterer (Christof Maria Kaiser) ist ein lebensfroher, modischer Raffinesse verschriebener Paradiesvogel – bis Aids zuschlägt und ihm Freude, Schönheit und Selbstbewusstsein mit Qualen austreibt. Letzterer (Ian McMillan) erträgt den Niedergang des Partners nicht. Zerrissen zwischen liebender Zuwendung und Entsetzen, ergreift der sonst so vergnügte Linksintellektuelle die Flucht vor dem Siechtum.

Zu beiden Paaren mal direkt, mal indirekt in Beziehung steht schließlich der politisch reaktionäre, moralisch verkommene Starstaatsanwalt Roy. Mit beißender Schnarrstimme macht Marcel Hoffmann aus dieser Figur einen vermeintlichen Kraftprotz der Moderne, der auch den hektischsten Kanzleibetrieb meistert, über beste Verbindungen in die höchsten Gesellschaftsränge verfügt und sich mit jedwedem Mittel die Gerichtsbarkeit gefügig macht. Doch schier gewalttätig wehrt er sich, als schwul zu gelten, beharrt auf Leberkrebs, als man ihm die Aidsdiagnose stellt.

Der dreistündige Abend beginnt in einem langen Krankenhausflur, der spitz zulaufend bis ans letzte Ende der Hinterbühne reicht (Ausstattung: Christoph Ouvrard). Beiderseits liegen durch Vorhänge abtrennbare Behandlungsnischen.

Eine Bühne, viele Orte

Aus denen heraus entwickeln sich sämtliche Spielszenen der Inszenierung. Ob Schlafzimmer, Badezimmer, Krankenzimmer, Anwaltskanzlei, Park oder bei Harper, Prior und Roy bald entstehende Wahnbilder: Alle Orte bleiben stets verbunden mit dem Haus der Krankheit und des Sterbens.

Dort kann sich auch die größte Stärke von Wagners Inszenierung schön entfalten: auf allen Positionen sehr fein und differenziert ausgespielte psychologische Ambivalenzen sowie textinterpretatorisch überaus gescheite Verzahnungen bis hin zu Gleichzeitigkeit oder gar Verschmelzung diverser Szenen (in Nebenrollen: Claudia Felke, Stephen Appleton, Lisa Heinrici). So werden Schicksalähnlichkeiten bei beiden Paaren deutlich, finden sich plötzlich der aidskranke Prior und die paranoide Harper als Leidensgefährten gemeinsam auf einem Bett sitzend. Es sind vor allem solche Momente, die das Stück aus dem Zuschnitt nur auf Teile der Gesellschaft in Dimensionen der menschlichen Allgemeingültigkeit heben.

Eine Frage bei „Engel in Amerika“ war schon immer: Wie soll das Theater umgehen mit den halluzinierten Passagen im Stück. Szenisch voll ausspielen oder es bei Andeutungen belassen? Wagner dreht das große Rad, lässt fantasierte Eskimos, verstorbene Urvorfahren, geflügelte Todesboten leibhaftig herumgeistern – und am Ende Prior zwischen wallend himmelblauen Tüchern sich zu den Engeln des Nirwana erheben. Da möchte man über die letzten Minuten eines ansonsten hochinteressant inszenierten und fabelhaft gespielten Abends die Hände ringen. Es bleibt dann aber doch bei langem, kräftigem Applaus.

Karten und Infos zum Stück gibt es unter Telefon 0261/129 28 40 sowie im Internet unter www.theater-koblenz.de

Von unserem Autor Andreas Pecht