Es sind zwei Daten, die dem Musiker aus Weinolsheim (Kreis Mainz-Bingen) vermutlich für den Rest seines Lebens in Erinnerung bleiben: der 26. Dezember 2023, „an dem mich meine Mutter mit ihrer Patientenverfügung ins Krankenhaus nach Ostfriesland bestellt hat“, wie der 53-Jährige – Künstlername Un(d)abtanzbar – erzählt, und der 17. Januar 2024, „an dem sie endlich von ihrem Leid erlöst wurde“. Ein ungutes Gefühl, sagt Fiedler, habe er seinerzeit schon während der Zugfahrt verspürt. Und gleich nach der Ankunft in der alten Heimat feststellen müssen, „dass es zu Ende geht, weil sie nicht mehr konnte und nicht mehr wollte“.
Eine kaum erträgliche Gewissheit, der Fiedler in den darauffolgenden Tagen mit seiner Leidenschaft, der Musik, begegnete. Nicht der von anderen Künstlern, „da ich diese Lieder sonst in Zukunft immer mit dem Tod meiner Mutter verknüpft hätte“, wie er erklärt, sondern eigene, „die ich ursprünglich nur für mich aufnehmen und danach wieder beiseitelegen wollte – um mich abzulenken und zu verhindern, dass mir die Decke auf den Kopf fällt“.
Verloren im Stillstand
Was im norddeutschen Winter offenbar auch ohne die Begleitumstände eines Todesfalls passieren kann: „In Ostfriesland“, erinnert sich der Musiker, „wird es in dieser Zeit um halb fünf dunkel. Wenn ich aus dem Hospiz kam, war das Haus meiner Mutter leer, es passierte nichts, als ob die Zeit stehen geblieben wäre, weshalb ich mich dort auch ein bisschen verloren gefühlt habe.“
Das Album spiegelt diese bedrückende Atmosphäre nun in weiten Teilen wider, das abschließende Requiem beispielsweise, das wie die restlichen Songs am Keyboard eingespielt wurde, allesamt ohne Gesang aufgenommen, dafür mit viel Schwermut, Melancholie, auch Wut und Verzweiflung. Mehr als 55 Minuten elektronische Musik, teils mit Versatzstücken aus Soundbänken angereichert, in der bei aller Betrübtheit jedoch auch immer wieder Kraftvolles anklingt, eine berührende, Mut spendende Form der Erhabenheit – etwa in Schuberts neu interpretiertem „Ave Maria“ –, zuweilen gar ein Hauch von Lebensfreude in den schnelleren Beatfolgen von Songs wie „Disharmonic Insurance“ oder „Phaser me up“.
„Es war nicht so, dass wir den ganzen Tag geweint haben“, sagt Fiedler, „das gab es natürlich auch, aber dazwischen lagen immer wieder Momente der Hoffnung, wenn es meiner Mutter ein bisschen besser ging, in denen wir auch mal gelacht oder uns Anekdoten von früher erzählt haben.“
Das Album ist folglich keine Ansammlung kakofoner Klagelieder, sondern ein vielschichtiges Stimmungsbild in Musik gegossener Emotionen, das bewegte Porträt einer Zeit, die natürlich maßgeblich geprägt wurde von den Momenten der Schwere, des Leids – herauszuhören beispielsweise aus dem unbehaglich pulsierenden Sound von „Starring the incoming train“, über das Fiedler sagt: „Ich hatte keinen Todeswunsch, aber in manchen Situationen habe ich mir schon überlegt, ob ich am Bahnsteig nicht einfach einen Schritt nach vorn gehen soll.“
Manchmal ist mir auf dem Keyboard der Finger verrutscht, manche Passagen sind atonal, aber für mich war das kein Problem, weil es in dem Moment eben so passiert ist.
Kay Fiedler
Daneben allerdings findet sich auf dem Album auch ganz Alltägliches, kleine Lichtblicke im ausufernden Grau wie im Song „Bam Bam“, der jener Katze gewidmet ist, die Fiedler im Haus seiner Mutter regelmäßig besuchte. „Ich habe auf dem Album auch viel von dem aufgegriffen, was drum herum passiert ist“, sagt der 53-Jährige, „Dinge, die mir während meiner Zeit in Ostfriesland widerfahren sind.“
Wobei spannend vor allem auch das Konzept hinter dem Album ist: Die Songs nämlich, sagt Fiedler, „sind aus dem Gefühl heraus entstanden, aus meiner jeweiligen Stimmung. Sie kommen direkt aus den Fingern, und wenn sie für mich in Ordnung waren, habe ich sie aufgenommen.“ Aus gutem Grund, schließlich sei die übergeordnete Prämisse gewesen: „ein Tag, ein Track, und jeder falsche Ton bleibt“, erzählt der Musiker – und ergänzt. „Manchmal ist mir auf dem Keyboard der Finger verrutscht, manche Passagen sind atonal, aber für mich war das kein Problem, weil es in dem Moment eben so passiert ist und die Lieder ursprünglich nur für mich gedacht waren.“
Den Schmerz im Kopf ad acta legen
Womit natürlich unweigerlich die Frage aufkommt, warum sich Fiedler am Ende doch für eine Veröffentlichung des Albums entschieden hat. „Weil ich mir die Lieder mit ein bisschen Abstand noch mal angehört habe“, erklärt er, „und mir dachte, dass es da draußen vielleicht auch andere Menschen gibt, die gerade genau wie ich empfinden und Musik hören möchten, die danach einfach als Teil des Schmerzes im Kopf ad acta gelegt werden kann, ohne dass sie irgendwann plötzlich fröhlich aus dem Radio plärrt und einen niederreißt.“
„X Days Till Death“ hingegen biete „Musik zum Einmalgebrauch“, die Songs, sagt Fiedler, seien solche, „zu denen man gehen lassen kann“. Wozu schließlich auch sein eigener Wunsch passt, gut vier Monate nach dem Tod seiner Mutter „so langsam abzuschließen mit diesem Thema, wenngleich es mir im Moment noch sehr schwerfällt“. Auch weil seine Mutter „der letzte Mensch war, mit dem ich mich über unsere Familie austauschen konnte, der mir Fragen beantwortet hat zu unserer Geschichte“.
Es gibt Menschen, die blicken zurück auf stringente, kaum abzweigende Lebensläufe, und es gibt solche wie Kay Fiedler, der mit seiner wechselvollen Biografie quasi das Gegenmodell darstellt. Der 52-Jährige aus Weinolsheim (Kreis Mainz-Bingen) hat in seinem Leben viel gesehen – und zugleich ...Musik als Wegbegleiter: Kay Fiedlers Leben ist geprägt von zahllosen Rückschlägen – und einer Konstante
Doch: In der Zwischenzeit ist schrittweise auch die Lebenslust zurückgekehrt, arbeitet Fiedler etwa bereits an einem neuen, durch Künstliche Intelligenz unterstützten Album, das dann auch wieder fröhlicher sein soll, so, „wie es meinem eigentlichen Naturell entspricht“. Über die 26 Tage, die er bis zum Tod mit seiner Mutter verbrachte, sagt der Musiker heute: „Ich bin froh, dass ich in dieser Zeit bei ihr war und sie begleiten konnte.“
„X Days Till Death“ ist auf allen gängigen Streamingplattformen abrufbar. Weitere Infos zum Künstler gibt's auch hier.