Ein gigantisches Spektakel: Die Popdiva gastiert mit ihrer "Here We Go Again"-Tour derzeit in Deutschland
Eine gigantische Show: Cher dreht in Köln die Zeit zurück
Inmitten von jungen Tänzern singt die 73-jährige Cher, dass die Welt den Frauen gehört. Foto: dpa
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Köln. Die Lanxess Arena in Köln ist wie jede moderne Eventhalle ein Nichtort, an dem alles kann, aber nichts muss. Bald zaubern dort die Ehrlich Brothers, dann werden Chris Tall und Dieter Nuhr offene Türen einrennen, und anschließend wird Howard Carpendale einmal mehr „Ti amo“ schmachten. Es grenzt daher an ein Wunder, die Beliebigkeit des Ortes in etwas Bestimmtes, Einmaliges zu verwandeln. Nur eine Diva, eine Göttliche also, vermag dies. Auftritt: Cher.

Die Popdiva schwebt vom Bühnenhimmel herab. Sofort glaubt man, die Arena sei eigentlich nur für sie errichtet wurden. Und von der ersten Sekunde an zweifelt niemand mehr an der These ihres ersten Liedes: „This Is a Woman's World“ („Dies ist eine Frauenwelt“). In den folgenden 90 furiosen Minuten wird Cher zeigen, was wahre Emanzipation bedeutet.

Gegen die Natur

Nachdem sie sich 1974 aus der nicht immer liebevollen Hand ihres ersten Ehemannes Sonny Bono löste, befreite sich Cher im Verlauf der nächsten vier Jahrzehnte nicht nur von den Ketten einer patriarchal geprägten Unterhaltungsindustrie, sondern auch von denen der Biologie. Cher hat es nie akzeptiert, determiniert zu sein – ob durch Männer, prüde Sittenwächter oder die Natur selbst. Im Anschluss an „Strong Enough“, das zweite Lied an diesem Abend, macht Cher dies in einer recht umständlichen, aber von Herzen kommenden Geschichte deutlich. Denn wäre es nach Jack Nicholson gegangen, hätte Cher die Rolle in „Die Hexen von Eastwick“ nicht bekommen. Sie sei zu alt, befand der neun Jahre ältere Schauspieler.

Heute ist Cher 73, anders als andere Diven verrät sie ihr Alter stolz. „Wie findet ihr mein natürliches blaues Haar?“, fragt sie. Mit einer riesigen blauen Perücke, Glitzeramazonenkorsett und sehr langen Beinen steht sie da und wirkt trotz aller Künstlichkeit nicht gekünstelt. 15.000 Zuschauer jubeln ihr zu. Ausverkauft. Und doch gelingt es Cher, eine unmittelbare Nähe mit jedem Einzelnen herzustellen. Dabei hilft auch ihr entwaffnende Selbstironie.

„Und was macht eure Oma heute Abend?“, fragt sie kokett. Chers Körper ist neben der unverwechselbaren Stimme selbstredend das Ereignis des Abends. Mädchenhaft tanzt Cher zu ihren Hits, als hätte sie alle natürlichen Schranken längst überwunden. Wer an dieser Stelle auf ihre Schönheitsoperationen verweist, verkennt die eiserne Disziplin des Stars, der alles dafür tut, um jeden Abend Cher zu sein. Bis Weihnachten wird Cher alle zwei bis drei Tage Konzerte geben, dann im Januar nur wenige Auftritte absolvieren, um im Februar für zehn Shows in Las Vegas fit zu sein. Ein gigantisches Pensum.

Nach dem zweiten Song verschwindet Cher hinter der Bühne, um bald darauf in neuer Robe zu erscheinen. Blau, blond, brünett, rot, gelockt und glatt werden die Perücken an diesem Abend sein. Nach jedem zweiten Lied wechselt Cher das komplette Outfit. Vielleicht darf man sich das, was dann hinter der Bühne vor sich geht, wie einen Boxenstopp in der Formel 1 vorstellen.

Gewiss ist jedenfalls, dass Cher noch immer auf der Poleposition der Popwelt steht. Zu Recht, wie sie in Köln auch gesanglich unter Beweis stellt. Im Gegensatz zu vielen Musiksternchen heute griff sie für ihr legendäres Erfolgsalbum „Believe“ von 1998 auf Autotune nicht zurück, um stimmliche Makel zu glätten, sondern um ihre Stimme zu modifizieren. Verfremdung, nein, Gestaltung des Natürlichen zu einer Künstlichkeit, die Chers gewünschtes Ich hörbar werden lässt, war das Ziel. Auf jenen Effekt greift sie in Köln zurück, doch keineswegs bei allen Titeln. Hits wie „Walking in Memphis“ oder „The Shoop Shoop Song“ singt sie mit ihrem warmen tiefen Timbre, nur unterstützt von zwei Backgroundsängerinnen und einer hervorragenden Band. Die Stimme ist noch immer voluminös und unverkennbar. So klingt Selbstbehauptung, und doch liegt auf ihr stets ein Hauch Melancholie und Lebensklugheit. Einzig die übersteuerte Soundanlage mindert den Genuss bei einigen Titeln, besonders bei den drei ABBA-Liedern, erheblich. Die Technik torpediert Chers technische Perfektion.

Direkte politische Botschaften bringt Cher mit ihrer Stimme nicht zu Gehör, vielmehr ist es eine trotzige Haltung zu einer Welt, die man nicht einfach so akzeptieren sollte, wie sie ist. Cher tat das nie. Als Chers Mutter ihrer Tochter vor vielen Jahren einmal prophezeite, eines Tages werde auch sie ruhiger werden und sich einen reichen Mann suchen, antwortete Cher: „Mom, ich bin ein reicher Mann.“

Männlich an Cher ist in der Tat die Selbstsetzung. Die Sängerin realisiert ihre eigene Fantasie, nicht die von Männern. Wenn sie mit der eingespielten Stimme des 1998 verstorbenen Sonny noch einmal im Duett „I Got You“ singt, dann ist dies zum einen ein wehmütiger Augenblick, zum anderen aber auch eine triumphale Aneignung der Vergangenheit.

Wie vor 30 Jahren

Die durch fünf deutsche und viele weitere europäische Städte führende Tournee „Here We Go Again“ bietet eine Mischung aus Las-Vegas-Glamour, Burlesque-Show, Varieté und überdachtem Christopher-Street-Day. Alles folgt nach dem Prinzip: Es darf ruhig etwas mehr sein. Dies alles kulminiert dann in der Performance ihres Hits „If I Could Turn Back Time“. Was 1989 noch wie ein frommer Wunsch klang, scheint 30 Jahre später Wirklichkeit geworden zu sein. Diese Frau kann tatsächlich die Zeit zurückdrehen.

Mit dem legendären Outfit – Strapse, Tanga, Lederjacke und etwas Strass –, das 1987 für einen Auftritt bei „Wetten dass..?“ mit ein wenig mehr Stoff versehen werden musste, läuft Cher energiegeladen über die Bühne. Und natürlich zieht Cher auch noch die Lederjacke aus, wirft sie elegant von sich, um nun endgültig zu demonstrieren, dass ein wahrer Star alle Naturgesetze außer Kraft setzen kann. Das ist in keinem Moment peinlich, vielmehr schauen wir Sterblichen, mancher gar mit Nachos-Packung auf dem Schoß und Bierbecher in der Hand, fasziniert auf eine Frau, die den schönen Schein in Sein verwandelt hat. Uns trifft davon ein Abglanz. Immerhin.

Von unserem Redakteur Wolfgang M. Schmitt