Als der 21-jährige Georg Friedrich Händel 1706 nach Italien reiste, um seine Karriere als Opernkomponist voranzutreiben, war Rom ein auf den ersten Blick unwahrscheinliches Ziel: Dort waren infolge eines Skandals alle Opernaufführungen strikt verboten. Doch der Bedarf an repräsentativer Musik war groß in den gelehrten Akademien und Residenzen der reichen Mäzene. Wie gut, dass sich in der Ewigen Stadt eine Gattung etabliert hatte, die nicht die kirchliche Zensur auf den Plan rief, aber trotzdem prachtvolle Musik, virtuosen Gesang und sogar festliche Inszenierungen bieten konnte: das religiös grundierte Oratorium.
So konnte Händel 1707 in Rom sein erstes in einer langen Reihe von Oratorien schreiben, für das der kunstsinnige Kardinal Benedetto Pamphili das Libretto verfasst hatte. Eine Aufführung von „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ (etwa: „Der Sieg der Zeit und der Erkenntnis“) in Rom ist nicht belegt, Händel aber schätzte das Oratorium sehr, das er später mehrfach bearbeitete.
Es geht um den Sinn des Lebens
Und tatsächlich erlebt man auch heute, wie jetzt bei der Premiere der Neuinszenierung des Theaters Koblenz im Theaterzelt auf der Festung Ehrenbreitstein, eine Musik, die staunen macht. So wunderbar sind die Arien und Ensembles, so berückend ist die Instrumentierung gelungen, so tief ergründet die musikalische Verarbeitung die starken Botschaften des Textes, in denen es um nichts weniger als den Sinn des Lebens geht.
Die vier auftretenden Allegorien vertreten Bellezza (die Schönheit), Piacere (das Vergnügen), Disinganno (die Ent-Täuschung oder Erkenntnis) und Tempo. Letztere - die Zeit - macht getreu des Hits von Barry Ryan aus dem Jahr 1971 nur vor dem Teufel halt – und vor sonst niemandem. Darin liegt am Ende des Abends auch die Erkenntnis der jungen Bellezza, die nach Diskussionen über Ziel und Zweck des Lebens einsieht, dass Jugend und Schönheit vergehen werden.
Auch die Opernbühne liebt dieses Thema
Ein solches Nachdenken über die Vergänglichkeit taucht in einigen wunderbaren Opern auf: etwa in Giuseppe Verdis „Traviata“, in dem die schwindsüchtige Violetta sich anfangs darüber definiert, „immer frei im Vergnügen von Freude zu Freude zu taumeln“. Die Zeit, die ein sonderbar Ding ist, steht auch im Zentrum des „Rosenkavaliers“ von Richard Strauss, in dem eine Frau am Übergang zwischen jung und alt raumgreifend zu schönsten Klängen darüber nachsinnt.
Diese Werke aber wurden samt einer spannenden Handlung für die Opernbühne konzipiert – nicht so Händels Oratorium. Einige Regisseure haben sich an szenischen Fassungen versucht, etwa Jürgen Flimm, der die vier allegorischen Figuren im Rahmen eines prallgefüllten Pariser Restaurants nach einem schönen Abend bei mehreren Gläsern Wein berührend die großen Fragen des Lebens verhandeln ließ.

Auf einen etwas anderen Abend zielt Regisseur Jan Eßinger in Koblenz ab: Vier Freunde kommen in der Wohnung von Piacere zusammen, um sich aufs Ausgehen einzustimmen. Aus Nickereien über die Frage, wer wohl die größte Macht habe, entsteht der Grundkonflikt, der schließlich Bellezza dazu bringt, ihre Freundin Piacere zu verlassen. Tempo hat gewonnen, Bellezza will sich fortan einem Leben voll Sinn und ohne flüchtige Vergnügungen widmen.
All das sind Küchengespräche im Studentenbudenambiente (Bühne: Sonja Füsti, Kostüme: Silke Willrett)) – und diese Ausgangssituation startet stark und sinnstiftend. Aber weder die detailreiche Personenführung durch den Regisseur noch seine Hinzunahme von mythologischer Statisterie (Satyr und kleiner Cupido) und einer reifen Tänzerin als älteres Ich der Bellezza können verhindern, dass die Entwicklungs- und Spannungskurve ein flaches Relief bleibt. Erst zum grandiosen Schluss, wenn Bellezza und die ältere Frau (Claudia Lichtwardt mit starkem Ausdruckstanz) miteinander agieren, gewinnt diese hauchzarte Rahmenhandlung Profil.

Doch das fällt wenig ins Gewicht angesichts der musikalischen Impulse, die der Koblenzer Erste Kapellmeister Felix Pätzold mit einem kleinen, um einige hervorragende Alte-Musik-Spezialisten verstärkten Ensemble der Rheinischen Philharmonie von der Nebenbühne aus setzt. Und das trotz denkbar widriger Umstände im Theaterzelt, wo alles verstärkt werden muss und schnell nach Musik aus der Konserve klingt. Pätzolds Tempi sind hervorragend verlässlich für die Gesangssolisten, die Produktion ist bestechend gut vorbereitet und lässt die akustischen Kompromisse, die in der Ausweichspielstätte eingegangen werden müssen, beinahe vergessen.
Verstärkt und klanglich eingeebnet, ist auch der Klang der Sängerinnen und Sänger ein Erlebnis, in das man sich erst hineinhören und dann Stolperfallen wie die laute Zeltlüftung einfach überhören muss. Es lohnt sich aber angesichts der sehr guten Leistungen in allen vier Partien. Als Disinganno versieht der Countertenor Christian Borrelli seine beiden großen Arien mit langem Atem und einer ausgesprochen klangschönen, lyrischen Stimme, Aus dem Koblenzer Ensemble macht die höhen- und stilsichere Leistung des jungen Tenors Piotr Gryniewicki als Tempo Lust auf mehr. Auch zwei seiner Ensemblekolleginnen feiern einen großen Erfolg; erwartungsgemäß Sopranistin Hannah Beutler mit verblüffender Kondition in ihren acht Arien - und großen Reserven für den intensiv berührenden Schluss. Über besonders begeisterten Applaus darf sich Mezzosopranistin Haruna Yamazaki als Piacere freuen, die nach vielen großen Fachpartien nun auch in dieser Alten Musik mit mühelos gemeisterten Verzierungen und souverän gesponnenen Melodiebögen brilliert.
Warum nicht mal eine Händel-Oper?
Die Frage, ob man dieses Oratorium auf die Opernbühne bringen muss, wenn es von Händel doch auch so viele, dramatisch viel wirksamere Opernwerke gibt, bleibt auch nach dieser Premiere bestehen. Der Versuch ist aller Ehren wert – und verpassen sollte man das so selten zu erlebende Werk ohnehin keinesfalls.
Infos und Tickets unter www.theater-koblenz.de