Wenn Kallweit jene Art von Musik skizziert, die ihm förderwürdig scheint, kommt er immer wieder auf Alma Naidu zu sprechen. Nicht nur, weil die junge Jazzkünstlerin Mitte Juni das bislang letzte seiner Wohnzimmerkonzerte bestritt, sondern auch weil sie im Kern genau das verkörpert, was Musik für den Vallendarer ausmacht. „Wunderbare Stimmen und Klänge“, sagt der selbstständige Grafikdesigner, „gehen tief unter die Haut und berühren uns. Man hört gute Lieder nicht nur, man spürt sie.“ Denn: „Musik ist die unmittelbarste und kraftvollste Kunstform, zugleich die einzige Sprache, die all unsere Gefühle ausdrückt und von jedem verstanden wird.“
Was hier bereits anklingt, wird in den folgenden Sätzen zunehmend deutlicher: Kallweit schätzt die unprätentiöse Performance, unaufdringliche und klare Musik, bevorzugt „Texte zum Zuhören“, wie er sagt, „charismatische Lieder als Momentaufnahmen der Zeit“. Womit man dann wieder bei Alma Naidu wäre, die in ihren Liedern all diese Attribute vereint: „Wenn sie anfängt zu singen“, erklärt Kallweit, „ist alles still, und man hat sofort Gänsehaut.“
Kultur als Wesenskern der Gesellschaft
Sehr klug und „unfassbar talentiert“ sei die gebürtige Münchnerin – von der „Süddeutschen Zeitung“ als „eines der größten Gesangtalente der Republik“ ausgemacht, für ihr Wirken bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bayerischen Kunstförderpreis, und doch weitaus weniger präsent in der öffentlichen Wahrnehmung als manch andere, überschaubar befähigte Musiker.
Talent allein, das zeigt auch dieser Fall, reicht (leider) nicht aus für den großen Erfolg im Musikgeschäft. Die finanziell lohnende Sichtbarkeit bedarf vielmehr des entsprechenden Marketings, einer gesunden Portion Glück – vor allem auch der Zuwendung zu hörerträchtigen Genres. Und weil dem so ist, weil viele hochbegabte Musiker unter dem Radar bleiben, immer seltener leben können von ihrer Arbeit, organisiert Kallweit seit knapp zwei Jahren seine Wohnzimmerkonzerte. „Kunst und Kultur“, sagt er, „sind der Wesenskern unserer Gesellschaft, und genau den gilt es zu erhalten.“ Weshalb ihm in der Corona-Krise, als die Existenzängste der Kulturbranche exponentiell anstiegen, die Idee kam: „Wir könnten doch unser Wohnzimmer ausräumen und für Auftritte zur Verfügung stellen.“
Für die Zuhörer entsteht zugleich ein Moment der Intimität, der Anmut, der auch einen Kontrapunkt setzt zur allgemeinen Beschleunigung unserer Zeit, zu all dem Wahnsinn wie etwa dem Ukraine-Krieg.
Gernot Kallweit über seine Wohnzimmerkonzerte
Doch nicht nur das: Die eingeladenen Musiker – den Auftakt machte im Oktober 2021 Catharina Schorling alias CATT – erhalten hierfür eine garantierte Gage im vierstelligen Bereich, Kallweit bezahlt ihnen auf Wunsch zudem die Hotelübernachtung. Stühle und Technik werden derweil von Sponsoren gestellt, „die ich mit meinem Projekt angesteckt habe“, wie der 63-Jährige berichtet, die rund 50 Zuhörer wiederum führt der Weg zum Konzert über eine Einladung des Hausherrn – Weinbar im Garten und üppiges Buffet inklusive.
„Wir stellen dann eine Spendendose auf und sagen: ,Wir bieten euch hier einen Rundumgenuss für alle Sinne – ihr entscheidet, was euch das wert ist“, erklärt Kallweit, der unabhängig davon 1000 bis 2000 Euro in jedes Konzert investiert – das jedoch „sehr gern“, wie er sagt, denn: „Mir ist es wichtig, die Kultur zu unterstützen, das ist gewissermaßen mein Hobby, meine Leidenschaft, für die ich im Gegenzug eben auf Urlaub verzichte.“
Eine bemerkenswerte Einstellung, die sich in Kallweits Herleitung wunderbar selbstverständlich anhört, dabei in Teilen auch wieder mit den eingangs erwähnten Gefühlen zusammenhängt: „Bei uns treten Musiker auf, die etwas Großartiges können und damit für alle Beteiligten ein bleibendes Erlebnis schaffen“, sagt der 63-Jährige – und ergänzt: „Für den Künstler selbst ist es besonders, weil er direkt vor dem Publikum steht, es anders als auf der großen Bühne auch konkret wahrnimmt.“
Alma Naidu – da ist sie wieder – habe ihm beispielsweise gesagt, es sei das schönste Konzert ihres Lebens gewesen. „Für die Zuhörer“, fährt Kallweit fort, „entsteht zugleich ein Moment der Intimität, der Anmut, der auch einen Kontrapunkt setzt zur allgemeinen Beschleunigung unserer Zeit, zu all dem Wahnsinn wie dem Ukraine-Krieg.“
Vom Flügel auf den Fußballplatz
Es ist jene unüberhörbare Leidenschaft, die den Vallendarer kennzeichnet, die fast schon poetisch angehauchte Bewunderung für die Musik, die in seinem Fall bereits in jungen Jahren einsetzte. „Mit sechs habe ich angefangen, Klavierunterricht zu nehmen“, blickt Kallweit zurück und betont: „Ich war gut darin, man hat mir sogar eine Zukunft als Konzertpianist vorausgesagt.“
Zu der es dann allerdings nicht kommt, weil er mit 14 vom Flügel auf den Fußballplatz wechselt, über Jahre recht erfolgreich spielt – unter anderem für den SC Vallendar –, erst mit Mitte 20 über einen Freund zurück zur Musik findet, in der Folge zu einem passionierten Konzertgänger wird. „Dass ich als Jugendlicher mit dem Klavierspielen aufgehört habe“, sagt er heute, „betrachte ich als größten Fehler meines Lebens.“ Und: „Um ehrlich zu sein, bin ich auch ein bisschen eifersüchtig auf die Künstler, die ihr Geld damit verdienen.“
Weshalb er die Wohnzimmerkonzerte nicht zuletzt auch als Möglichkeit betrachte, „mich mit diesen Menschen zu verbinden“. Über eine alternative Route, wenn man so will, deren Ende noch längst nicht absehbar scheint: Vier Auftritte hat Kallweit bislang organisiert – zwei pro Jahr seien der Kompromiss mit seiner Frau Annette Wehling, „ohne deren Unterstützung das Projekt gar nicht möglich wäre“, die zunächst allerdings nur bedingt begeistert war von der Idee, vor jedem Konzert das Haus auf den Kopf zu stellen.
„Eine Woche vor jedem Konzert“, sagt Kallweit, „fangen wir mit den Vorbereitungen an, tragen die Möbel aus dem Wohnzimmer, anschließend dekoriert meine Frau alles mit Blumen und Kerzen.“ So auch am 1. September, wenn die Reihe mit dem in Zürich geborenen Komponisten und Singer-Songwriter Roger Stein ihre Fortsetzung findet. Am 23. März 2024 wiederum ist die albanisch-schweizerische Jazzsängerin Elina Duni zu Gast in Vallendar – mit Rob Luft, ihrem Lebensgefährten und Vorzeigegitarristen in Personalunion.
Zwei Konzerte, denen Kallweit schon jetzt entgegenfiebert, vor denen er zunächst jedoch resümiert: „Als wir mit dem Format angefangen haben, war es natürlich auch ein Experiment. Doch so, wie es sich entwickelt hat, hoffe ich, heute auch ein Vorbild sein zu können für andere, damit sie sich ebenfalls für die Kultur einsetzen.“
Wer die Wohnzimmerkonzerte einmal live erleben möchte, kann sich per E-Mail an g.kallweit@t-online.de um einen Platz auf der Gästeliste bewerben. Weitere Infos auch online