Von unserem Autor Andreas Pecht
Kein Fünkchen Grazie, Gediegenheit, Schönheit enthalten das Bühnenbild von Berlinde De Bruyckere und die Kostüme von Dorine Demuynck. Löchrig zerrupft begrenzt ein dreckiger Sackvorhang einen Raum, für den der Einzug von Mutter Courage mit ihrem Marketenderwagen gar keine Überraschung wäre. Brechts Antiheldin aus dem Dreißigjährigen Krieg tritt zwar nicht auf, doch sind Zerstörung und Verrohung der Welt durch Krieg unverkennbar die Essenz dieses Bühnenraumes und Stückes. Entsprechend deformiert, äußerlich wie innerlich, erscheinen auch dessen Akteure.
Anfangs zur stillen Trauer um die wie hingemetzelt drapierten Pferde versammelt, gehen diese Menschen bald hemmungslos aufeinander los, prügelt jeder auf jeden ein, reißen sie sich im Verlauf eines tobenden Getümmels gegenseitig die Alltagsklamotten heutiger Zeit in Fetzen. Es ist Musik Gustav Mahlers, von der die Berserker für eine Weile wieder zu Sinnen und Humanität gebracht werden. Es sind Elemente aus fast allen Mahler-Sinfonien, welche die Tänzer fortan begleiten – nicht etwa durch eine tanzend erzählte Story, sondern durch ein Wechselbad psychologisch extremer Momente von mal ungeheurer Brutalität gegeneinander, mal zärtlichstem Mitleid füreinander, mal ausgelassener bis erotischer Spielerei miteinander.
Die Mahler-Klänge vom Band bleiben nicht allein. Dazwischen und hinein mischen sich, vom Tanzensemble selbst fabelhaft realisiert, mehrstimmige Choräle, Lieder und komplexe afrikanische Rhythmen. Die Führung übernehmen dabei zwei kongolesische Sänger, die auch vollwertig mittanzen – und die der technisch teils enorm anspruchsvollen Verschmelzung unterschiedlichster Bewegungsformen aus Tanzgeschichte und -gegenwart Elemente ihres eigenen Kulturkreises beifügen. Alain Platels Choreografie lebt in erheblichem Maße von Überraschungen: von ansatzlos aus wildem Chaos erwachsenden Formationen; von Bewegungs- und Figurenfolgen, die ebenso ansatzlos und in höchstem Tempo urplötzlich ein Jahrhundert Ballettgeschichte überspringen oder ständig wechselnde Entwicklungen nehmen, mit denen kein Zuseher hat rechnen können.
Wir sehen etwa das Nijinski-Stampfen von 1913 zusammenwachsen mit Pina Bauschs Frühlingsopfer-Orgiastik von 1975, sehen neoklassische Zierde zerbrechen unter William Forsythe' ruckenden Körperverkrümmungen oder umgekehrt. Wir erleben jeweils für Sekundenbruchteile die Wiederauferstehung des saftig brachialen Rumors von Johann Kresnik – und vieles mehr, das sich in diesem Rausch aus Aspekten gefährdeter bis zerbrochener und sich doch immer wieder aufrichtender Menschlichkeit kaum zuordnen lässt oder das von Platel neu kreiert wurde beziehungsweise wegen ungewöhnlicher Kombinierungen völlig neu wirkt.
Ähnlich der großen Prügelei zu Anfang, verzettelt sich „nicht schlafen” am Ende etwas in überlangen Passagen ungeordnet nebeneinander her laufender Einzelaktionen nebst augenzwinkernden Humoreinsprengseln. Die Botschaft ist klar, man hätte sie aber auch in ein paar Minuten weniger verstanden: Diese blöde Welt kriegt uns am Ende doch nicht klein.
Weitere Infos zu den Wiesbadener Maifestspielen unter www.staatstheater-wiesbaden.de