Gegenwärtig stehen sich an den deutschen Theatern zwei gegensätzliche Konzepte gegenüber: Da ist auf der einen Seite das postdramatische Stück, das auf Handlung sowie Figuren verzichtet und stattdessen die Schauspieler Textflächen sprechen lässt, um so gesellschaftliche Diskurse mehr oder weniger virtuos zu verhandeln – Elfriede Jelinek ist die berühmteste Textproduzentin dieser Zunft. Das von Lessing gewünschte Mitleiden des Zuschauers mit den Akteuren wird so umgangen, jegliche Identifikation vermieden. Auf der anderen Seite betreten festumrissene, psychologisch ausgestaltete Figuren die Bühne, die klare Konflikte in einer alltagsnahen Sprache austragen – die „Well-made Plays“, also handwerklich gut gemachte und nach der klassischen Dramentheorie aufgebaute Stücke, erleben derzeit eine Renaissance. Vor allem amerikanische und britische Werke stehen momentan ganz oben auf den Spielplänen. Die Gegenwartsautoren sind nicht selten auch in Hollywood tätig, und viele Dramen wirken tatsächlich wie Drehbücher, die es nicht zu einem Kinofilm gebracht haben. Aber auch Evergreens des Genres – wie „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“, „Tod eines Handlungsreisenden“, „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ – stehen hoch im Kurs.
Klassiker aus der zweiten Reihe
Am Schauspiel Frankfurt ist nun ein Klassiker aus der zweiten Reihe zu erleben: „Alle meine Söhne“ ist zwar nicht das berühmteste Stück von Arthur Miller, aber die Uraufführung 1947 machte ihn schlagartig berühmt. Erzählt wird ein übersichtlicher Konflikt: Der Geschäftsmann Joe Keller hat mit seiner Firma das amerikanische Militär während des Zweiten Weltkriegs beliefert, doch ein Angestellter soll fehlerhaftes Material für Flugzeuge verwendet und so den Tod von 21 Piloten zu verantworten haben. Nach und nach stellt sich jedoch heraus, dass Keller der wahre Schuldige ist: Nur um kein Geld zu verlieren, hat er persönlich seinen Angestellten angewiesen, defektes Material zu verarbeiten. Das vorstädtische Wohlstandsidyll der Unternehmerfamilie bekommt Risse: Kellers Frau ist ohnehin lange schon depressiv, vergeblich wartet sie auf die Heimkehr ihres im Krieg verschollenen Sohns, dessen Verlobte sich inzwischen in Chris verliebt hat, der zweite Sohn der Familie – er soll einmal die Firma des Vaters übernehmen.
Weitere Informationen und Tickets gibt es online unter www.schauspielfrankfurt.de
Miller erklärte später einmal, „Alle meine Söhne“ möglichst „unliterarisch“ angelegt zu haben. Kunstvolle Sprachbilder, rhetorische Figuren vermied er bewusst: „So weit wie möglich sollte nichts die Kunstlosigkeit des Stücks beeinträchtigen.“ Millers Plan ist aufgegangen, wie aber begegnet die Regie dieser gewollten Kunstlosigkeit? In Frankfurt mit Kunstgewerbe. Kostümbildnerin Irina Bartels stattet die Figuren mit Polohemden, eleganten Morgenmänteln, feinen Anzügen und taillierten Kleidern aus. In Rot-, Blau-, Gelb- und Grüntönen, die durch die Gemälde der Minimal Art und durch Designermöbel aus der damaligen Zeit jedem vertraut sein dürften. Die Schauspieler defilieren dabei über eine von Lydia Merkel farblich perfekt abgestimmte Bühne, die so auch in der Kunsthalle Schirn oder im Foyer der Deutschen Bank errichtet werden könnte. Der Regisseur und Intendant des Hauses, Anselm Weber, lässt das Stück so spielen, wie man solche Stücke eben spielt: Routiniert und mit einem aus alten Hollywoodfilmen vertrauten gestischen und mimischen Vokabular. Da die Figuren bloß mit einer psychologischen Pseudotiefe ausgestattet sind, muss bei Michael Schütz als Joe Keller und Nils Kreutinger als Chris Keller die Frage offen bleiben, ob sie Klischees oder klischiert spielen. Die einzig Vielschichtige in diesem Oberflächenarrangement ist Katharina Linder als Unternehmergattin. Linder verleiht ihrer Figur Ambivalenz durch ein doppelbödiges Sprechen, in dem Naivität und Kalkül, Furcht und Skrupellosigkeit sich ständig abwechseln.
Irrtum: Stück ist nicht kritisch
„Alle meine Söhne“ wird, weil es den amerikanischen Traum infrage stellt, gemeinhin für ein kritisches Stück gehalten. Das ist ein Irrtum. Miller zeigt lediglich einen unmoralisch handelnden Unternehmer, unter dessen Tat seine Familie zu leiden hat, ehe sie freilich erst von eben dieser finanziell profitiert hat.
Bejammert wird hier die sich auflösende Illusion vom trauten Familienglück, ohne aber Kellers Handeln in einen wirtschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Als hätte es Bertolt Brecht nie gegeben, wird in „Alle meine Söhne“ das Gesetz des Kapitalismus, eben Profitmaximierung, als moralisches und nicht als systemisches verhandelt.
So wundert es nicht, dass das Stück schließlich nach der Justiz ruft, als könnte ein Richterspruch allein wieder Frieden herstellen. Für das Publikum aber ist das eine angenehme Lösung, denn solange es nur einen einzigen Bösewicht gibt, kann man sich mit den anderen Figuren prima identifizieren und währenddessen in aller Ruhe überlegen, welches der – gewiss nicht aus fehlerhaften Materialien, aber möglicherweise unter mangelhaften Arbeitsbedingungen gefertigten – Outfits der Figuren einem selbst gut stehen könnte und ob der Edelminimalismus vielleicht etwas für das Eigenheim wäre.