Das einzige nennenswertes Requisit an diesem fast dreieinhalbstündigen Theaterabend ist: eine gut vier Meter hohe Puppe, deren Gesichtszüge der Physiognomie des Titeldarstellers nachempfunden sind (Bühne: Stefan Bischoff). Im ansonsten leeren Bühnenraum spielt Bernd Braun am Schauspiel Bonn den König Lear auch mit völlig leeren Händen. Seine 14 Mitspieler sind ebenfalls auf bloßen Sprech- und Körperausdruck verwiesen, einzig der Narr verfügt in Luise Voigts Inszenierung der Shakespearetragödie mit einem Schellenbaum ohne Schellen über eine Stütze.
Was hat es auf sich mit dieser ganz in Weiß gehaltenen, gespensterhaften Puppe? Auch ohne Lektüre des Programmheftes ahnt man bald: In ihr kommt der Zustand der Herrschermacht zum Ausdruck. Anfangs steht sie hoch aufgerichtet – da macht die Hofgesellschaft noch ängstliche bis ehrfurchtsvolle Bücklinge vor Lear. Als der jedoch Macht und Reich an die Töchter abgegeben hat und mehr und mehr zum die Jungen störenden, unliebsamen, schließlich geächteten normalmenschlichen Greis wird, sackt die Puppe in sich zusammen.
Theoretischer Unterbau
Das Programmheft erklärt diesen zentralen Aspekt in Voigts Inszenierung mit einem Text von Ernst Kantorowicz über „Die zwei Körper des Königs“. Danach verfügt der Monarch über einen natürlichen Körper und zugleich über einen politischen Amtskörper. Stirbt der natürliche Mensch, leben Würde und Macht des Amtes weiter. Weshalb in Bonn zum Ende die Puppe sich wieder machtvoll aufrichtet, weil mit Edgar (Alois Reinhardt) ein neuer König die Nachfolge Lears antritt.
Kann diese Zentralidee eine „Lear“-Inszenierung tragen, die mit vergleichsweise wenigen Text- und Handlungsstrichen auskommen will? Schwierig. Die Längen werden auch nicht kürzer durch den Einfall, das gesamte Personal mittels fast einheitlich weißgrauen Kostümen (Maria Strauch) barocker Anlehnung ganz nahe heranzurücken an die symbolische Puppensphäre. Das mag konzeptionell ebenso schlüssig sein wie die starke Betonung unnatürlicher Bewegungsarten der Protagonisten. Doch verliert es mit fortschreitender Dauer seine Wirkkraft.
Edmund (Christoph Gummert) etwa, der intrigante Bastard des Grafen Gloster (Wolfgang Rüter) kriecht wie ein Spinne durch die Szene. Lears Töchter Goneril (Sophie Basse) und Regan (Sandrine Zenner) geben zwischen eckiger Versteifung und gekünsteltem Hysteriegestus die bösen Furien.
Da wird der Moment, in dem Gloster, Edgar und der Narr (Lena Geyer, die auch Lear-Tochter Cordelia spielt) mit dem wahnsinnig gewordenen Lear im spastisch verkrümmten Gleichschritt als Pantomimen durch die akustisch brachial und filmisch im Großformat aufgerufene Sturmnacht stapfen, zur wohltuenden Abwechslung.
Titelfigur mit Fallhöhe
Was den Abend eigentlich halbwegs trägt, ist das Lear-Spiel von Bernd Braun. Die Titelfigur verzweifelt hier nicht einfach daran, dass machtgeile Nachgeborene ihr nach freiwilliger Abgabe der Herrschaft Respekt und standesgemäße Altersversorgung verweigern. Brauns Lear ist selbst ein arger Kotzbrocken – eitel, selbstherrlich, autoritär, rachsüchtig. Und umso größer ist sein Fall. Der einst am Staatstheater Mainz bekannt gewordene, nun schon lange dem Bonner Ensemble angehörende Schauspieler gibt dieser großen Altersrolle eine ungewohnte Schärfe mit; selbst in Lears Wahnsinn lauert bei ihm noch Empörung ob der „Schmach“, die ihm angetan.
So basiert die „Lear“-Umsetzung“ in Bonn auf einer interessanten Grundidee. Doch weder die beigefügte Hintergrundmusik und der Einsatz von Großfilmtechnik noch das exzellente Spiel des Hauptdarstellers bewahren sie vor einer gewissen Langatmigkeit.
Andreas Pecht