Die Kamera war ihr ständiger Begleiter, sie galt ihr als „Erweiterung meiner Augen“, quasi als drittes Auge. Tatsächlich besaßen damals, 1929, nur wenige Fotografen die erst kurz zuvor auf den Markt gekommene Kleinbildkamera von Leica. Doch Ilse Bing, die junge Frau aus einer jüdischen Familie, konnte damit ungewohnte Perspektiven oder kühne Bildausschnitte erproben. Ihre Heimatstadt Frankfurt verließ sie 1930 und ging nach Paris, damals die führende Kunstmetropole.
Dort wurde sie mit Porträt-, Mode-, Ballett- und Straßenfotos eine wichtige Pionierin der Avantgardefotografie und galt bald als „Königin der Leica“. Später gab sie in ihrer neuen Heimat, den USA, die Fotografie auf und wurde erst 1976 wiederentdeckt. Jetzt wird Bing als eine von 40 Fotografinnen gewürdigt, die weit über Frankfurt hinaus gewirkt haben. „Stadt der Fotografinnen. Frankfurt 1844–2024“ lautet der Titel der Schau im Historischen Museum Frankfurt, die noch bis zum 22. September im Rahmen der Fototriennale „Ray“ zu sehen ist. Dorothee Linnemann und ihr Kuratorinnenteam haben dafür 450 Originalabzüge aus 180 Jahren versammelt.
Zwischen Fotografie und Frauenbewegung
Frauen konnten sich in dem neuen Metier erstaunlich gut durchsetzen, da es noch nicht von Männern dominiert war. Und sie stellten früh unter Beweis, dass sie ihr Handwerk beherrschen und Gespür für wichtige Themen haben. Zudem sind „die Geschichte der Fotografie und die Geschichte der Frauenbewegung vielfach ineinander verschränkt“, wie Museumschef Jan Gerchow ergänzt. Die Schau will auf die bekannten und vergessenen Frauen hinweisen, ohne die das Wissen über die Stadt-, Kunst- und Fotogeschichte um vieles ärmer wäre.
Dass Frankfurt bald nach Erfindung der Fotografie 1826 die ersten Ateliers hatte, verdankt man der Ansiedlung von chemischen Firmen, die wichtiges Fotomaterial lieferten. Eine Überraschung ist das Werk von Julie Vogel, die mit ihrem Ehemann Friedrich Carl Vogel in den 1840ern ein Atelier für Porträtfotografie betrieb. Einige Bilder signierte Julie Vogel um 1844 allein – darunter könnte durchaus das älteste erhaltene Bild einer Fotografin sein.
Völlig unbekannt ist bisher Katharina Culié, die von 1884 bis 1929 in Frankfurt ein Atelier führte, das Bürgertum und deren Kinder, aber auch Schauspieler in Rollenkostümen oder ganz privat ablichtete. Diese Bilder sind ein exquisiter Fundus, obgleich die Porträtierten arg steif wirken. Auch Nini und Carry Hess gründeten 1913 ein Studio; dank einer Retrospektive ist ihr Wirken bekannt, das jedoch für die beiden Jüdinnen übel endete. Ins Auge fällt ihr Foto der Puppenspielerin Liesel Simon aus der Zeit zwischen 1925 und 1933, die mit den Figuren lebte und litt.
So ziehen sich durch die Schau mehrere Motive, von den Porträts und Selbstporträts über das stete Bauen in der Stadt, das Theater und die Kulturszene bis hin zu sozialen und politischen Themen. Gisèle Freund etwa gelangen 1933 kurz vor der Flucht etliche Fotos von den immer mächtiger werdenden Nazis – der Hitlergruß war schon längst Usus. Fortan hielten sich viele Frauen mit zeitlosen Fotos über Wasser wie Elisabeth Hase, die ein Kind im Gras mitsamt Puppe zeigt. Und Emy Limpert lebte noch lange von Bildern für das städtische Modeamt.
Auch die Bauten des „Neuen Frankfurt“ sorgten in den 1920er-Jahren für Fotoaufträge; nach 1945 zog Ursula Edelmann durch die Stadt und hielt die Trümmer der Bauten fest. Die späteren Proteste der 68er-Generation tauchen bei Inge Werth ebenso auf wie bei Erika Sulzer-Kleinemeier, während Gerda Jäger-Link den Kampf gegen den Abtreibungsparagrafen dokumentiert.
Die sicherlich etwas zu kurz dargestellte feministische Kunst vertritt die Darmstädterin Annegret Soltau mit ihren zerrissenen und anschließend neu vernähten Bildern der Familie. So erhält die Oma ein faltenfreies Gesicht, die Enkelin dafür viel schlaffe Haut. Soltau führt uns an diesen brutalen Bild-OPs vor Augen, dass sich die Zeit unerbittlich in jeden Körper einschreibt.
Stadtbild im Wandel
Die jüngeren Fotografinnen widmen sich heute verstärkt dem Wandel des Stadtbilds. Meike Fischer etwa verfolgte zwischen 2013 und 2017 den Abriss und Neubau des Henninger-Turmes. Aus dem alten Getreidesilo wurden nach dem Verkauf der Brauerei teure Luxuswohnungen; als kleines Trostpflaster gibt es nach wie vor ein Restaurant und eine Aussichtsterrasse.
Der Gang durch die Schau führt an Technikstationen vorbei, die auch eine Dunkelkammer und die Analogkamera erklären. Zudem sind Interviews mit Fotografinnen zu sehen – kurzum: ein rundum durchdachter und gelungener Überblick.
Zu sehen ist die Ausstellung bis zum 22. September, ein Katalog zum Preis von 45 Euro ist erschienen. Mehr Infos gibt's hier.