Gemeinsam mit 97 Leidensgefährten tritt ein besonderer Patient der von Meier Jacoby 1869 gegründeten Israelitischen Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke seine letzte Reise an: Hans Davidsohn, besser bekannt als der Schriftsteller Jakob van Hoddis. Geboren am 16. Mai 1887 in Berlin, ältester Sohn des jüdischen Sanitätsrates Hermann Davidsohn und seiner Frau Doris.
Bereits während seiner Gymnasialzeit begann Hans Davidsohn, Gedichte zu schreiben, studierte nach dem Abitur an der TH Charlottenburg erst Architektur, dann in Jena klassische Philologie und kehrte schließlich wieder nach Berlin zurück, an die Friedrich-Wilhelms-Universität. Dort begegnet er dem Nochjurastudenten und Schriftsteller Kurt Hiller, der ihm 1908 zu seinem literarischen Debüt verhilft.
Ein Jahr später legt sich Hans Davidsohn den Namen van Hoddis zu, ein Anagramm von Davidsohn. 1911 wird sein bekanntestes Gedicht „Weltende“ erstmals in der Berliner Zeitschrift „Der Demokrat“ veröffentlicht: „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut/In allen Lüften hallt es wie Geschrei/Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei/Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut/Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen/An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken/Die meisten Menschen haben einen Schnupfen/Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“
Das Gedicht macht van Hoddis zu einer der führenden Figuren des Frühexpressionismus. Gehetzt, aufgewühlt ist sein weiterer Lebensweg. Wegen „Unfleißes“ von der Universität zwangsexmatrikuliert, geht er 1912 nach München. Dort zeigen sich erstmals Symptome einer Zwangspsychose. Aus eigenem Antrieb sucht van Hoddis die Kuranstalt Wolbeck bei Münster auf – die erste von vielen Anstalten, aus denen er mehrfach flüchtet und nach kurzen Unterbrechungen wieder eingewiesen wird. Ab 1914 ist er ständig in ärztlicher Behandlung und privater Pflege, ab 1922 in Tübingen.
Als sich sein Zustand 1926 weiter verschlechtert, wird er auf Antrag seiner Mutter vom Amtsgericht entmündigt und kommt 1927 in eine Privatklinik für Gemüts- und Nervenkranke in Göppingen, das Christophsbad. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 emigriert van Hoddis Mutter mit dessen beiden Schwestern nach Palästina. Er wird in die Israelitischen Heil- und Pflegeanstalten in Sayn verlegt.
Die wiederum hatte sich nach bescheidenen Anfängen in einem Haus in Altsayn wegen der hohen Nachfrage gut entwickelt, wie schon der Umzug in das größere Gebäude in der Koblenz-Olper-Straße zeigt. Hier stehen 165 Belegbetten für jüdische Patienten aus Deutschland und dem europäischen Ausland zur Verfügung. 1938 werden bis auf wenige Ausnahmen alle nicht jüdischen Angestellten der Anstalt entlassen, 1940 verlassen die Nachfahren Meier Jacobys mit ihren Familien das Land. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, deren Gründung die Nazis 1939 anordnen und in der alle Juden per Zwang Mitglied sind, übernimmt die Anstalt und erhöht die Bettenzahl von 190 auf 474, so Dietrich Schabow in seinem 2021 als Sonderdruck erschienenen Aufsatz „Israelitische Heil- und Pflegeanstalt für Nerven und Gemütskranke Sayn“.
In der Folge ordnet ein Runderlass des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Inneren vom 12. Dezember 1940 an, sofort die „Mißstände“, sprich die gemeinsame Unterbringung von Deutschen und Juden Pflegeanstalten, zu beheben. „Geisteskranke Juden“, heißt es, dürfen „künftig nur noch in die Heil- und Pflegeanstalt in Bendorf-Sayn aufgenommen werden. Falls aus Gründen der öffentlichen Sicherheit die Unterbringung eines geisteskranken Juden in einer deutschen Heil- und Pflegeanstalt erforderlich wird, ist für eine umgehende Weiterleitung des Patienten in die Heil- und Pflegeanstalt in Bendorf-Sayn zu sorgen.“ 1942, vor Beginn der Deportationen, werden dort 167 männliche und 255 weibliche Patienten betreut.
Beim dritten Transport am 15. Juni 1942 werden mit dem in Koblenz-Lützel abfahrenden Sonderzug 322 Personen aus Sayn deportiert, darunter 271 Patienten der Anstalt, so Schabow. Hinzu kommen zehn Insassen des im Wohnhaus der Jacobys untergebrachten Altersheims, 43 Angestellte und Arbeiter, unter ihnen der Arzt Kurt Laufer und seine Frau Ella sowie drei Kinder von Bediensteten.
Am 10. November werden die 31 verbliebenen Patienten, meist ausländischer Herkunft, auf Erlass des Innenministeriums in das Jüdische Krankenhaus in Berlin deportiert. Zurück bleibt nur die Sekretärin Else Baer. Sie teilt am 14. November einer Bendorfer Versicherungsagentur mit, die Heil- und Pflegeanstalt Sayn sei zum 10. November liquidiert worden. Jakob van Hoddis wird vermutlich 1942 im KZ Sóbibór im Alter von 55 Jahren ermordet.