Rund um die WM 2022 in Katar wurde viel diskutiert über eine Frage, die vier Jahre zuvor bereits allgegenwärtig war beim Turnier in Russland: Wie kann es sein, dass der Fußballweltverband FIFA – in der Eigendarstellung gern Garant für ethische Standards und Weltoffenheit – sein größtes Sportereignis an Länder vergibt, in denen Homosexuelle und andere Minderheiten weitestgehend rechtelos sind? Ein offenkundiger Widerspruch, der auf den zweiten Blick allerdings nur logisch erscheint in einer Sportart, die fernab wohlfeiler Worte nach wie vor wenig Platz bereithält für gelebte Toleranz.
Die Doku „Das letzte Tabu“ (ab 13. Februar bei Prime Video) taucht nun ein in die (Alb-)Traumfabrik Profifußball, beleuchtet das Schicksal homosexueller Spieler, blickt hinter die Fassade eines Hochglanzprodukts, dessen Funktionäre Verfärbungen im schönen Schein nur allzu gern beiseite wischen. Regisseur Manfred Oldenburg („Kroos“, „Das Wunder von Bern – Die wahre Geschichte“) lässt in dem 90-minütigen Streifen (ehemalige) Spieler wie Thomas Hitzlsperger oder Collin Martin zu Wort kommen, die über ihre Erfahrungen vor und nach dem Outing sprechen, erweitert die Perspektive zugleich aber auch um Interviews mit LGBTQ-Aktivisten oder Fanvertretern.
Spießrutenlauf einer Identifikationsfigur
Emotionen anrührende Leidensgeschichten jedoch erzählt der Film zu keiner Zeit, zeichnet vielmehr ausdrucksstarke Porträts jener Menschen, die das titelgebende Tabu überwunden haben. „Wir wollten die ganz persönlichen Geschichten der wenigen homosexuellen Spieler im Profifußball schildern, die den Mut hatten, sich zu outen“, sagt Regisseur Oldenburg über den Film. „,Das letzte Tabu‘ sollte die innere Perspektive dieser Spieler zeigen, (...) die immer vor dem gleichen Problem stehen: der Wahl zwischen Selbstverleugnung oder Befreiung.“
Wie auch Justin Fashanu, Anfang der 1980er als große Nachwuchshoffnung vom englischen Premier-League-Club Nottingham Forest verpflichtet, nach Bekanntwerden seiner Homosexualität jedoch unablässig drangsaliert, von Übungsleiter Brian Clough im Training als „verdammte Schwuchtel“ beschimpft und wenig später aus dem Team verbannt.
Nach Stationen in den USA und Kanada kehrt Fashanu Ende des Jahrzehnts schließlich nach England zurück, wo er sich 1990 als erster Profifußballer öffentlich outet. Er will aufklären – besonders eindringlich sind die Ausschnitte seines Auftritts in einer BBC-Talkshow 1992 –, will Vorbild sein für junge Menschen, „damit sie nicht den Druck spüren, sich das Leben zu nehmen“, wie er sagt, doch zerbricht am Ende selbst an der Verachtung, die ihm über Jahre auch aus der eigenen Familie entgegenschlägt.
Fashanus tragisches Schicksal, sein Suizid 1998 sind eine Zäsur für das Streben nach Gleichberechtigung im Sport. Viele Betroffene scheinen in der Folge bestärkt in ihrem Glauben, Wahrheit und Selbstbestimmung opfern zu müssen für eine diskriminierungsfreie Karriere. Neun Jahre lang herrscht trügerisches Schweigen, bis sich mit Marcus Urban ein weiterer Profi zu seiner Homosexualität bekennt. In „Das letzte Tabu“ erzählt der ehemalige Spieler von Rot Weiß Erfurt eindringlich vom kräftezehrenden Versuch, schon in den Jugendteams nie aufzufallen, von der damit einhergehenden psychischen Belastung, der Chance auf den Sprung in die Bundesliga – die er am Ende verstreichen lässt, sich, gesundheitlich angeschlagen, „für das Leben und gegen den Fußball“ entscheidet.
Urban und Fashanu, sie gelten der LGBTQ-Community seither als Vorbilder und Identifikationsfiguren – doch ihrem Beispiel folgen im Profifußball nur wenige, 2014 etwa der ehemalige deutsche Nationalspieler Thomas Hitzlsperger. „Von weltweit geschätzten 500 000 Profifußballern“, erklärt Oldenburg, „leben heute weniger als zehn offen homosexuell.“ Womit dem Sport ein trauriges Alleinstellungsmerkmal zuteil wird: Denn während Homosexualität in anderen Gesellschaftsbereichen inzwischen auf zunehmende Akzeptanz stößt – die Zahl der Homosexuellen an der Weltbevölkerung im Übrigen auf 5 bis 10 Prozent geschätzt wird –, scheint der Sport zumindest nach außen hin so etwas wie die letzte verbliebene Bastion reiner Heterosexualität.
Warum dem so ist, ergründet die Doku schließlich facettenreich, zeichnet das Bild von Spielern, die nach wie vor Ablehnung fürchten durch Trainer und Teamkollegen, von Funktionären in Sorge um möglichen Diskredit bei Fans und Sponsoren. Doch sie zeigt auch Beispiele gänzlich gegensätzlicher Natur. Die Geschichte Jakub Janktos etwa, der sich, seinerzeit in Diensten von Sparta Prag, Anfang 2023 in einem Instagram-Video outet und wenige Wochen später im Stadion des Erzrivalen Barník Ostrava unerwartete Akzeptanz erfährt.
Was im Umkehrschluss die Frage aufwirft, ob Gesellschaft und Fans vielleicht längst viel weiter sind als der Sport und dessen Repräsentanten. Ja, lautet die Mut machende Einschätzung der ehemaligen Bundesliga-Spielerin Tanja Walther-Ahrens. Und auch Hitzlsperger glaubt, dass das Umfeld inzwischen bereit sei für mehr homosexuelle Sportler. Eine These, für die schließlich auch das Beispiel von US-Profi Collin Martin spricht, neben Jakub Jankto und Jake Daniels (FC Blackpool) einer von drei aktiven Spielern, die offen homosexuell leben.
Als Martin 2020 im Duell seines San Diego Loyal SC gegen Phoenix Rising – der entscheidenden Partie um den Einzug in die Play-offs – von seinem Gegenspieler homophob beleidigt wird, verlässt das von Landon Donovan gecoachte Team geschlossen den Platz. Der geforderte Feldverweis für den Übeltäter bleibt in der Folge aus, die Elf von San Diego daraufhin in der Kabine – und verpasst aufgrund des anschließenden Spielabbruchs die Aufstiegschance in die höchste US-Spielklasse.
Von einer „harten Situation“ spricht Martin in „Das letzte Tabu“ – und sieht doch ein positives Zeichen: „Die ganze Welt“, sagt er, „hat gesehen, dass sich das Team, der Trainer, die Besitzer, die Stadt hinter mich gestellt haben.“ Gelebte Solidarität, auf die Justin Fashanu 30 Jahre zuvor noch vergebens gewartet hatte.