Da steht der König im Dunkel zwischen den halb geöffneten Vorhanghälften. Flüsterstimmen aus dem Off prophezeien ihm die Geburt eines üblen Sohnes, eines Muttermörders und blutigen Tyrannen. Babygeschrei. Man zeigt ihm den Knaben, und der Vater schreit: „Schafft ihn fort!“ Szenenwechsel, Jahre später: An einem hohlen Baum geleint, vegetiert Prinz Sigismund unter strenger Aufsicht Clotalds in der Isolation des Waldes vor sich hin – bis der müde alte König den Halbwilden in Schlaf versetzen und abholen lässt, um ihn als potenziellen Thronfolger einer Eignungsprüfung zu unterziehen.
So erwacht der junge Mann am Hofe, findet sich urplötzlich scheinbar ausgestattet mit allen Möglichkeiten des absoluten Herrschers. Ein Kaspar Hauser in Samt und Seide auf dem Thron, voll von Hass auf seinen Aufseher und auf den Vater, der ihn verstieß, voll Staunen über und Lust auf die Lockungen des Fraulichen, das er noch nie erlebt hat, gedemütigt durch die Hochnäsigkeit Astolfs und Estrellas, der verwandten Konkurrenten um die Krone.
Man weiß: Diese ungerechte Prüfung kann nur schiefgehen. Und tatsächlich erschlägt der Prinz sofort einen Diener, bedroht Clotald, legt sich mit Astolfs an, vergewaltigt fast dessen Ex-Geliebte Rosaura, giftet gegen den König. Also wird Sigismund im Tiefschlaf wieder zurück in den Wald verfrachtet. Kein Wunder, dass der junge Mann bald nicht weiß, ob er Wirklichkeit erlebt oder fantasiert, ob er träumt oder wacht.
Eben darum geht es in diesem allegorischen Stück: um die Scheinhaftigkeit des Seins, die Verwirrung zwischen Vorstellung und Realität, zwischen menschlichem Können, Wollen, Wünschen und normativen Maßstäben, auch zwischen Moral und Macht. Wie das Bühnenbild von Valentin Köhler oft mit halb transparenten Gaze-Vorhängen schön die vage Gleichzeitigkeit der Existenzebenen Wald und Königshof andeutet, so changiert Daniel Mutlus Spiel als Sigismund trefflich zwischen handfester Diesseitigkeit und Erlebenszweifel. Drumherum entfaltet die bis zu den Bühneneffekten bodenständige Inszenierung eine eigentümliche Neigung zu mal kräftig aufgetragener, mal eher unfreiwillig wirkender Komik. Den Narren im Spiel gibt Vincent Doddema, der als Diener Clarin in immer wieder direkter Ansprache des Theaterpublikums gescheit bis banal kalauernd herumwitzelt.
Recht närrisch kommt einem auch der König von Armin Dillenberger vor – im derangierten Outfit eines alten Astrologenzausels. Und wenn Martin Herrmanns Clotald sich wie ein grantiges Kind strampelnd am Boden wälzt in Unentschiedenheit zwischen Treue zum König oder zum schlussendlich aufständischen Prinzen, befremdet das dann doch.
Spaß macht die intrigante Kiebigkeit von Mark Ortels Astolf und Gesa Geues Estrella, während Kruna Savic mit der recht verbissen angelegten Rosaura unter ihren aus Wiesbaden bekannten Möglichkeiten bleibt. Die Mainzer Inszenierung mag kein Höhenflug gegenwärtiger Theaterkunst sein, gleichwohl darf sie für heutiges Publikum als gut gangbare Hinführung zu diesem kniffeligen Werk gelten.