Als Volkskrankheit ist sie heute bekannt, wird mit dem Verlust sozialer und kognitiver Fähigkeiten assoziiert, landläufig immer wieder auch als (altersbedingte) Vergesslichkeit abgetan. Wobei Demenz weitaus vielschichtiger ist als das, in ganz unterschiedlichen Ausprägungen auftritt, in seiner schleichenden Grausamkeit gerade auch die Angehörigen vor kaum zu bewältigende Herausforderungen stellt. Das Benennen der Symptome? Greift folglich zu kurz. Es braucht vielmehr Erfahrungsberichte, um die Krankheit in ihrem ganzen Ausmaß zu erfassen, schmerzliche Sätze wie die folgenden von Christine Piontek: „Statt vor 17 Jahren ,einfach’ von uns zu gehen“, schreibt sie, „stirbt meine Mutter seit fast zwei Jahrzehnten. Ihr altes Ich wurde bei lebendigem Leib zersetzt.“
Die in Windhagen (Kreis Neuwied) lebende Autorin hat mit „17 Jahre Demenz – So long, liebe Mama“ ein Buch veröffentlicht, in dem sie die Krankheit von Terminologie und oberflächlicher Betrachtung befreit und stattdessen aus einer sehr persönlichen, emotionalen Sicht heraus betrachtet. In 17 Kurzgeschichten beleuchtet Piontek die Leidensgeschichte ihrer dementen Mutter – von ersten geistigen „Aussetzern“ bis hin zum fast vollständigen Verlust der motorischen und kognitiven Fertigkeiten. Ein „Abschied auf Raten“, den die Autorin nun aus der Perspektive einer pflegenden Angehörigen rekonstruiert.
Heilsame (Selbst-)Reflexion
„Mir ging es darum, meine Erfahrungen anhand verschiedener Wendepunkte im Verlauf der Krankheit zu verarbeiten“, sagt sie im Gespräch mit unserer Zeitung und ergänzt: „Ich wollte zeigen, wie massiv die Demenz das Wesen der davon Betroffenen verändert, aber auch, wie die Angehörigen damit umgehen, was es mit ihnen macht.“ Eine bedrückende, von Piontek lange Zeit gescheute (Selbst-)Reflexion, die sich im Nachhinein jedoch als überaus heilsam erwiesen habe, denn: „Natürlich war es nicht leicht“, sagt die Autorin, „ich habe beim Schreiben auch viel geweint. Aber je weiter ich mit dem Buch vorankam, desto besser ging es mir, weil ich dadurch auch vieles von dem loslassen konnte, mit dem ich vorher gehadert habe.“
Das Verhalten ihrer Mutter beispielsweise, die – früher sanft und liebevoll – aufgrund der Krankheit plötzlich ablehnend, teils ungerecht auftritt, die fehlende Empathie von Ärzten oder auch die eigene Überforderung mit der Gesamtsituation. „Das Buch soll kein Ratgeber sein“, betont Piontek, „sondern mein eigener emotionaler Erlebnisbericht, der anderen Angehörigen vielleicht aufzeigen kann, was es braucht, um für einen dementen Menschen da zu sein, wie man diese schwierige Zeit durchschreitet.“ Der zugleich aber auch sehr offen umgeht mit den Begleiterscheinungen der Krankheit und ihren Herausforderungen, mit Zweifeln und Versagensängsten. „Du wirst als Angehöriger an den Punkt kommen, an dem du nicht mehr kannst“, verdeutlicht Piontek, „Dinge sagen, die du im Nachhinein bereust, wirst wütend sein, dich ohnmächtig fühlen, aber das ist in Ordnung.“

Wenngleich der Weg hin zu dieser Erkenntnis auch für die Autorin ein langer war. „Heute“, erklärt sie, „sehe ich viele Dinge anders als damals. Ich habe mittlerweile begriffen, dass man über dieses schwierige Thema sprechen und sich rechtzeitig Hilfe holen sollte, dass man sich im Sinne der Selbstfürsorge auch Grenzen setzen muss.“ Wozu in letzter Konsequenz auch die – für viele Angehörige wohl schwerwiegendste – Entscheidung zählt, die Betroffenen in die professionelle Betreuung eines Pflegeheims zu übergeben. Bei ihrer Mutter, erzählt Piontek, sei das im Sommer 2020 der Fall gewesen. Gemeinsam mit ihren beiden Schwestern habe sie damals „einfach feststellen müssen, dass mein Vater, der meine Mutter hauptsächlich gepflegt hat, nicht mehr konnte. Er war selbst fast 80, körperlich an seinen Grenzen, hat kaum noch geschlafen – es ging schlichtweg nicht mehr.“
Im Heim sei ihre Mutter dann schnell bettlägerig geworden, habe sich geweigert aufzustehen, liege seitdem meist mit vor der Brust gekreuzten Armen und zur Faust geballten Händen in ihrem Zimmer, schlafe viel. „Von außen“, sagt Piontek, „ist das ganz fürchterlich mit anzusehen, und manchmal ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass meine Mutter bereits tot ist, obwohl sie ja in Wirklichkeit noch lebt.“

Dabei sei es gerade diese empfundene Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung, die die Situation noch zusätzlich erschwere: „Wenn ein Mensch stirbt“, erklärt die Autorin, „bewahrt man ihn so, wie er war, im Herzen, aber genau das funktioniert bei Demenz leider nicht, weil die Krankheit das ursprüngliche Wesen verdrängt – und mit der Zeit auch die Erinnerung daran.“ Weshalb das Buch, von dem im Übrigen bereits eine Fortsetzung geplant ist, für Piontek schließlich noch auf einer weiteren Ebene von Bedeutung ist: „Demenz“, sagt sie, „lässt von den Menschen oft nur ein Zerrbild ihrer selbst zurück, daher wollte ich mir meine Mutter als die Person, die sie früher war, ein Stück weit auch schreibend zurückholen.“
Das Leben vor der Krankheit soll vor diesem Hintergrund nun auch den Schwerpunkt bilden im zweiten Buch. Im ersten wiederum gelingt es Piontek, in sehr komprimierter Form, immer wieder auch mit einer heilsamen Prise Galgenhumor zu schildern, wie die Demenz ihre Mutter verändert hat, welchen Schmerz eben dieser Umstand auch bei den Angehörigen auslöst: „Zu wissen, dass sie jetzt nur noch dort liegt und ihr Alter nicht genießen konnte, dass meinem Vater gewissermaßen auch die Frau genommen wurde, ist etwas, das einen täglich begleitet und belastet“, sagt Piontek, die nach einer kurzen Pause allerdings auch anmerkt: „Auf der anderen Seite denke ich mir: Eigentlich weiß ich ja gar nicht, wie es meiner Mutter heute mit der Krankheit geht, also wer bin ich zu behaupten, dass ihr Leben nicht mehr lebenswert ist, nur weil Raum und Zeit für sie keine Rolle mehr spielen?“
Christine Piontek: „17 Jahre Demenz – So long, liebe Mama“, story.one publishing, 75 Seiten, 18 Euro