Premiere im Jugendtheater
„Be More Chill“ ist das Musical der Stunde
Ein Wunder? Jeremy (Leon Jung, Mitte) mutiert binnen Tagen vom Außenseiter zum Mädchenschwarm. Dahinter steckt ein gefährlicher Supercomputer im Musical "Be more Chill" am Koblenzer Jugendtheater.
Kai Myller

Auf den ersten Blick sieht das Musical „Be More Chill“, das jetzt in der Koblenzer Kufa gezeigt wird, aus wie ein weiteres heiteres Stück aus der High-School-Welt. Doch das Stück mit seiner flotten Musik und starken Charakteren bietet weit mehr.

„Be More Chill“ ist in gewisser Weise ein Corona-Opfer: 2015 war das von Joe Iconis komponierte Musical in den USA uraufgeführt worden und schraubte sich mit massiver Unterstützung meist jugendlicher Fans die Bühnen-Eskalationsstufe nach oben. Auf Off-Broadway-Aufführungen folgten solche am „großen“ Broadway und der Weg in die Welt – bis die Pandemie für das pfiffige Stück genauso einen Dämpfer setzte wie für alles andere.

Und doch ist die clevere Coming-of-Age-Geschichte immer mal wieder nicht nur im Internet zu streamen, sondern auch live zu erleben, wo findige Musical-Freunde Lust auf Neues haben – wie jetzt beim Koblenzer Jugendtheater in der Kulturfabrik. Die Grundgeschichte ist denkbar einfach: Jeremy, ein liebenswerter Nerd, hat es nicht leicht an der High School, und bei seiner angebeteten Christine kann er schon gar nicht landen.

Rich (Zacharias Quick, links) und Jeremy (Leon Jung, rechts) mit dem Geist, den sie riefen und nun nicht mehr so leicht loswerden: Supercomputer Squip (Ben Seibel) hat ihr Leben zu großen Teilen übernommen.
Kai Myller

Da erscheint auf einmal eine Chance, die für Menschen schon immer verführerisch war, sei es in Person eines Flaschengeistes oder einer wunscherfüllenden Fee: Ein winziger Supercomputer namens Squip, so erzählt ein allseits beliebter Sunnyboy Jeremy, könne in kürzester Zeit das Schicksal wenden und auch den krassesten Außenseiter zum Liebling aller machen – wer könnte zu solcher Selbstoptimierung schon Nein sagen?

Gesagt, getan: Jeremy nimmt die vielversprechende Pille zu sich – und wird tatsächlich binnen kürzester Zeit umgewandelt. Sein Squip kommt im Outfit des Schauspielers Keanu Reeves (auch mal im Kostüm der „Matrix“-Filme) zu ihm – und stellt ein vermeintliches Verlierer-Leben komplett auf den Kopf. Rasch schon zeigen die Mädchen der Schule Interesse an Jeremy, leider nicht die verehrte Christine, für die er eigens in die Theater-AG eingetreten ist. Und überhaupt zeigt sich schnell: Die Wandlung hat längst nicht nur positive Seiten und droht komplett zu entgleiten. Vom Verlust der eigenen Autonomie bis zur Bedrohung der kompletten Menschheit wäre es im Ernstfall nur noch ein kleiner Schritt – doch zum Glück winkt ein fantastischer Showdown.

Die Charaktere der High-School-Komödie

„Be More Chill“ spielt virtuos auf der Klaviatur der Stereotype der High-School-Komödien, die das US-amerikanische Kino seit den 1980er-Jahren mit Nachdruck weltweit verbreitet hat. Alle Grundcharaktere kommen hier vor: Der nette, zurückhaltende Außenseiter, die sexy Superzicke, der brutale Schulschläger, der den zarter Besaiteten das Leben schwer macht. Der Supersportler, der seltsame Lehrer ... all diese Figuren dekliniert „Be more chill“ genüsslich und nicht verlegen um Klischees durch.

Und doch ist das Musical, das mit vielen Ohrwürmern, Leitmotiven („Christine“) und witzigen Texten aufwarten kann, kein oberflächlicher Vertreter des High-School-Genres, sondern nutzt diese Folie für eine gesellschafts- und fortschrittskritische Betrachtung einer womöglich in gar nicht so weiter Ferne liegenden Zukunft: Das dem Stück zugrunde liegende Buch stammt von 2004 – also aus einer Zeit, als von Künstlicher Intelligenz noch eher wenig die Rede war und auch Fake News, die immer mehr als Wahrheit akzeptiert werden, je öfter sie wiederholt werden, noch nicht den Alltag prägten.

Wo KI eigene Fake News generiert

Genau zu einem dazu passenden Verhalten führt aber dieser Supercomputer Squip, der es nicht nur auf Jeremy, sondern nach und nach auf immer mehr Menschen abgesehen hat: Er blendet aus, was sein „Benutzer“ überhaupt noch sieht und wahrnimmt, und dengelt sich die Realität so hin, wie es in seinen großen Plan passt.

Orwells „Big Brother“ also in einer sehr zeitgemäßen Verpackung – mit diesem Setting wirft „Be More Chill“ ganz nebenbei sehr bedenkenswerte Fragen auf. Und das in der temporeichen und detailfreudigen Regie von Tammy Sperlich, die das beachtliche 16 Köpfe umfassende Ensemble gehörig auf Trab hält: Das Koblenzer Jugendtheater hat für diese Produktion einen sehr starken Jahrgang versammelt, in dem selbst diejenigen, die im Programm „nur“ als Ensemblemitglied verzeichnet sind, Eindruck hinterlassen.

Eindrucksvolle Personenregie und Choreografie

Von allen 16 wird darstellerisch und choreografisch viel verlangt: Die zwei flotten Musikstunden von „Be More Chill“ sind ausgesprochen ensemblefreudig geschrieben, und für diese Szenen hat Tina Podstawa nicht nur zündende Tanz- und Shownummern choreografiert – auch bewegungschoreografisch ist das ganze Stück hindurch viel körperliche Präsenz zu erleben, die für szenische Dichte sorgt. So ist etwa der Showdown in der Schulvorstellung nach Shakespeares „Sommernachtstraum“ – vom extrem seltsamen Theaterlehrer zum „Sommernachtsalbtraum (mit Zombies)“ verdreht – ein augenzwinkernder, exakt getakteter Querverweis auf das Horror-Genre.

Gutes Timing ist überhaupt einer der zentralen Punkte des Abends: Das betrifft die Dialoge, die auf das straffe Zeitmanagement zum laufenden Begleittonband ebenso passen müssen wie alle Gesangseinlagen. Für deren Einstudierung zeichnet wieder einmal Cynthia Grose erfolgreich verantwortlich – und es ist schon erstaunlich, welche Reserven die jungen Darstellerinnen und Darsteller nach einem fordernden Abend für das Finale noch in petto haben.

Beste Freunde in guten und schlechten Tagen: Jeremy (Leon Jung, links) und Michael (Tim Eberle) in "Be More Chill" am Koblenzer Jugendtheater.
Kai Myller

Das trifft auf alle zu – besonders dabei auf die Hauptrollen: Leon Jung ist darstellerisch und stimmlich als veränderungswilliger Außenseiter Jeremy eine Traumbesetzung. Ein anderes Shirt, etwas Styling in die Haare – schon ist die Wandlung vom Nerd zum Beau komplett. Als sein Nerd-Freund Michael, der trotz der unangenehmen Wandlung unverzagt zu Jeremy hält, hat Tim Eberle bei seinem Nervenzusammenbruch im Badezimmer aus der Halloweenparty einen ganz großen Moment und sorgt überhaupt mit seiner feingeistigen Darstellung und natürlicher, kräftiger Stimme für Gänsehautmomente. Die sind bei Pauline Steinmüller – seit Jahren die sichere sängerische Bank beim Koblenzer Jugendtheater – sowieso garantiert, die sich mit gewaltiger Stimme und sehr viel Spaß im Zombie-Possenspiel von ihrer besten Seite zeigt.

Zacharias Quick bleibt als Rich mit rauer Glam-Rock-Stimme und hochtourigem Spiel in bester Erinnerung, ein verblüffend stimmstarkes It-Girl-Trio sind Olivia Erb als Brooke, Josefine Noll als Jenna und Julia Schmidt als Chloe – und Ben Seibel trifft den unterkühlt-überlegenen Ton des Supercomputers Squip sehr gut. Dabei unterstützen ihn wie alle auch die auf den Punkt gelungenen Kostüme von Christian Binz, der auch das Bühnenbild übernommen hat. Die Ziegelsteinoptik der Kulturfabrik passt hervorragend zum High-School-Ambiente – mit einer Spindreihe fühlt man sich dann gleich zu Hause in US-amerikanischen Schulfluren, in Nu kann die Bühne aber auch zum Jugendzimmer oder zur Partyszene mutieren. Sehr effektvoll fallen Martin Boosfelds Videoeinblendungen von Computerspielszenen bis zu grün leuchtenden Zahlenwänden aus.

Kurzum: Ein hochtouriger Musical-Abend außer der Reihe mit einem sehr interessanten Stück, das ein topaktuelles Thema intelligent behandelt. Sensiblen Ohren seien für einige Nummern Ohrenstöpsel empfohlen, und für ganz junges Publikum wäre das Stück wegen einschlägig bekannter Themen des Erwachsenwerdens ohnehin nicht zu empfehlen – für alle anderen Fälle ist „Be More Chill“ aber eine Entdeckung wert.

„Be More Chill“ wird bis zum 29. Mai noch in 12 Vorstellungen gezeigt, Termine und Vorverkauf online unter www.koblenzerjugendtheater.de