Am Anfang ist: die Stiefelette. Genauer gesagt 14 Paar davon, die auf der Bühne im Theaterzelt auf der Koblenzer Festung Ehrenbreitstein auf einem großen blauen Rund stehen. Darüber spannen sich, Planetenbahnen gleich, zwei Leuchtringe (Bühne und Kostüme: Dorit Lievenbrück). Ganz schön bedeutungsschwer, könnte man meinen zum neuen Ballettabend „Mozart: Requiem“ von Steffen Fuchs. Und tatsächlich könnten hier gut Weltenrund, Himmel und Erde und überhaupt alles gemeint sein, denn der Koblenzer Ballettdirektor Steffen Fuchs lässt sich auch in diesem Abend nicht dazu verführen, den vorgegebenen Text der Totenmesse zu „vertanzen“ oder in eine stringente Geschichte zu übersetzen, sondern bietet gewohnt viele Anknüpfungspunkte für Interpretationen, die allesamt aber der Musik entspringen.
Musik aus vielen Händen
Und die stammt an diesem Abend nicht, wie es der Titel noch nahelegen könnte, ausschließlich aus der Feder von Wolfgang Amadeus Mozart. Eingeflochten in die 14 Teile seines Requiems aus dem Jahr 1791 erklingen hier die „Lieder von einer Insel“, ein Konzert für Cello und Orchester von Udo Zimmermann von 2009. Dass hier wohl niemand „Sakrileg!“ rufen wird, ist sicher auch zum guten Teil Milos Formans Film „Amadeus“ von 1984 zu verdanken, der weltweit bekannt machte, dass Mozart über der Komposition seines „Requiems“ starb. Rund ein Drittel steuerten Komponistenfreunde bei, vor allem Franz Xaver Süßmayr und Joseph Eybler, in dieser Form ist das Werk als „Mozart-Requiem“ weltbekannt und wird, trotz einiger zwischenzeitlicher Überarbeitungsversuche weiterer Komponisten, noch meist in dieser Form aufgeführt.
Doch auch ohne diesen Hintergrund passt das hinzugefügte Cellokonzert, das von einem Gedichtzyklus von Ingeborg Bachmann (1926–1973) inspiriert ist, musikalisch erstaunlich gut in den Abend, verblendet, ergänzt und vollendet immer wieder mit Überraschungsmomenten das von mehreren Händen komplettierte Mozartwerk.
“Überraschung" ist das große Stichwort
„Überraschung“ ist dann auch immer wieder das große Stichwort des Abends – beginnend mit den erwähnten Stiefeletten. Denn diese führen ganz automatisch zu völlig anderen Ausdrucksformen des (neo-)klassischen Tanzes. Das kann man auch durchaus im rhythmischen Auftreten hören, vor allem aber ist es auch nicht zu übersehen, weil der feste Schuh den frei ausgestreckten Fuß unmöglich macht, insgesamt zu groberem, erdverbundenerem Tanz führt. Und genau diese gewisse Erdverbundenheit zeichnet die Interpretation des „Requiems“ aus, die keineswegs nur auf Momente wie Trauer und Abschied zielt, sondern die ganze Bandbreite im Lebenszyklus einschließt.
Man sieht ein dauerndes Ringen ums Suchen und Finden von Halt aneinander, wenn die Tänzerinnen auf viele verschiedene Arten den Tänzern entgegenspringen. Und wenn der Halt dann gefunden ist, wie im atemberaubend getanzten Pas de deux von Kaho Kishinami und Jacob Noble zu Zimmermanns Satz „Versöhnung“, dann kann sich das Paar kaum noch voneinander trennen. umschlingt sich in – wieder – überraschenden, nie gesehenen Variationen.
Eindrückliche Momente
Viele solcher Momente bleiben in Erinnerung: Auch der vergleichsweise eher klassisch gewirkte, beeindruckende Pas de deux von Emanuele Caporale und Clara Jörgens, die dafür auch von der Stiefelette zum Spitzenschuh beziehungsweise zum Schläppchen wechseln dürfen, um der Grundschwere entfliehen zu können. Oder auch das Solo zum „Lacrimosa“, in dem Melvin Boschat mit schier endlos langen Armen zahllose Ausdrucksmöglichkeiten vom Schmerzensmann bis zur scheinbar an Faden hängenden Puppe grandios durchmisst.
Dass die Ensembleleistung hinter diesen einprägsamen Soli nicht zurücksteht, zeigt das hohe Niveau, auf dem die Koblenzer Compagnie angekommen ist. Das ist gerade für die jüngst und unlängst hinzugekommenen Ensemblemitglieder sicher nicht ganz einfach – denn der Personalstil von Ballettdirektor Steffen Fuchs verlangt nach einer ziemlich außergewöhnlichen Umsetzung musikalischer Impulse, ist vom bloßen Tanzen auf Takt denkbar weit entfernt – und doch oder gerade deswegen immer wieder neu effektvoll.
In diesem „Requiem“-Abend ist es neben dem unablässigen Suchen und Finden von Halt immer wieder das Spannungsfeld zwischen Stehen und Fallen, das ins Auge fällt, die Weitergabe von Energie auch in Momenten des Nachgebens, was mindestens ebenso beeindrucken kann wie die kraftvollen Ensemblenummern etwa zu Mozarts Fugen. Oder auch die bilderbuchmäßig gelungene, transzendent himmelwärts strebende Szene dreier Paare im „Domine Jesu“, die stilistisch auch als Hommage an den Leipziger Ballettchef Uwe Scholz durchgehen könnte, bei dem Steffen Fuchs lange getanzt hat.
Vom Lichtblick zurück ins Dunkel
Sie bleibt nicht der einzige Stimmungslichtblick in all der Auseinandersetzung rund um die Totenmesse und die „Lieder von einer Insel“: Gegen Ende des Requiems, zu dem ein Bearbeiter zur Schlussfuge einfach auf die erste Nummer des Werkes zurückgriff und so immerhin originaler Mozart erklingt, hat sich die Energie zum Besseren, Helleren, Fröhlichen hin verschoben. Doch auch das bleibt Durchgangsstation im ewigen Lebenskreis: Zu letzten Zimmermann-Klängen verschwindet das Ensemble nach und nach, drei Schritte vor und zwei zurück, im Bühnenhintergrund. Zurück bleiben nur die Stiefeletten – und ein begeistertes Premierenpublikum.
Tickets und Termine unter www.theater-koblenz.de