Wenn in unserer Gegenwart die Suche nach der Gemeinschaft als Balsam für die Seele, als Antwort auf die Krisenüberforderung gesehen wird, liegt darin eine vielfach beschriebene Hoffnung, die eine eigene „Geschichte der Zukunft“ hat. So lautete der Titel eines Buches, das dem Schicksal von Utopien nachspürte. Utopien haben etwas Großes, Vorausschauendes. Ihre Weitsicht mag daher auch Kurzsicht provozieren und die Suche nach Haltepunkten in Gegenwart oder Vergangenheit auslösen.
Das Zusammendenken von Freiheit und Gemeinschaft ist historisch nicht neu, vor allem aber eine Konsequenz des modernen Lebens mit seiner Vielzahl an Lebensentwürfen. Von Zygmunt Bauman, dem im Jahr 2017 verstorbenen polnisch-britischen Soziologen, stammen die einleitenden Worte. Für sein Lebenswerk wurde er im Jahr 2014 von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ausgezeichnet, Ulrich Beck sprach damals in Trier die Laudatio. Beide ähneln sich in ihren soziologischen Konzepten und beide – Beck starb im Jahr 2015 – betonten den neuen Zuschnitt und die neuen Erscheinungsformen der Gemeinschaft in einer Welt, die nach Gestaltung verlangt, ohne die Pfade explizit vorzuschreiben.
Unser Gastautor
Der Professor für Soziologe Dr. Dr. h.c. Michael Jäckel – geboren am 26. September 1959 in Oberwesel – hat Soziologie, Geschichte und Politikwissenschaften studiert. Von 2011 bis 2023 war er Präsident der Universität Trier. Zu seinen wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkten zählten als Inhaber der Professur für Konsum- und Kommunikationsforschung in Trier neben der Allgemeinen Soziologie insbesondere auch die Themenbereiche Medien- und Konsumsoziologie, Neue Kommunikationstechnologien und Arbeitsorganisation sowie die Soziologie der Zeit.
„Ohne Ich kein Wir“ wurde zu einer Formel, die der Risikogesellschaft ein wenig von ihrer Dramatik nahm. An die Stelle der Kontrolle der Gemeinschaft als Bindeglied der Gesellschaft trat die Selbstverpflichtung des Einzelnen, die über seine persönlichen Ziele hinausreichen sollte. Damit wurde der Gemeinschaftsgedanke auf eine neue Ebene gehoben.
Als Ferdinand Tönnies im Jahr 1887 sein Grundlagenwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ vorlegte, ging es ihm um eine Formenlehre und die Begründung eines Gegensatzes: Hier die Verbundenheit in Gemeinschaft zum Wohle des wahren Menschseins, dort das gesellschaftliche Nebeneinander von Tausch- und Vertragsverhältnissen voneinander unabhängiger Personen. „Wesenwille“ und „Kürwille“ standen sich unversöhnlich gegenüber – wenig versöhnlich auch die Begrifflichkeit an sich.
Das kalte Gesicht der Gesellschaft
In dieser Deutlichkeit diente dieser Dualismus von „Natürlichem“ und „Künstlichem“ als ein Kontrastmittel, als idealtypische Veranschaulichung von sozialen Ordnungsvorstellungen, die sich nicht vereinbaren lassen. Dem „Gesellschaftlichen“ wird das Teilnahmslose, Anonyme, Unverbindliche auf den Weg in die Entfremdung mitgegeben.
Fast ein Jahrhundert lang hatten Menschen zu diesem Zeitpunkt den Abschied von alten Ordnungen bereits verarbeiten können. Und doch wurde hier noch einmal sehr grundsätzlich das kalte Gesicht einer arbeitsteiligen Gesellschaft mit zunehmend urbanen Zügen dem Überschaubaren und Vertrauten gegenübergestellt. Familien- und Gemeindeideale, die Klammer der Religion – das waren zentrale Referenzpunkte. Vor 100 Jahren fühlte sich immerhin Helmuth Plessner angesichts seiner „Gemeinschafts“-Erfahrungen veranlasst, auf Grenzen hinzuweisen und ein gestaltendes Element in den Alltag des sozialen Lebens einzuführen.
Die Gemeinschaftserlebnisse von heute sind häufig zeitlich begrenzt, an ein bestimmtes Ereignis gebunden. Wer daran teilnimmt, begibt sich in Bindungen ohne Konsequenz.
Michael Jäckel
Sein Buch „Grenzen der Gemeinschaft“, das im Jahr 1924 erschien, ist mehr als ein Spiegel der damaligen Zeit. In der Tat spiegelt sich in dem Untertitel des Buchs („Eine Kritik des sozialen Radikalismus“) zunächst ein tiefes Unbehagen an der politischen Lage und Rhetorik der Weimarer Republik mit ihren Spielarten des Zusammenstehens für eine Sache wider: Kommunismus versus Faschismus als Gegenpole.
Plessner verarbeitete in dieser frühen Schrift seine Erfahrungen mit der Vereinnahmung durch „Bund“-Vorstellungen unterschiedlicher Art, sei es in der Jugendbewegung oder der politischen Jugend. Zunächst war als Untertitel auch „Eine Kritik des kommunistischen Ethos“ vorgesehen. Mit „Radikalismus“ wandte er sich gegen die „Rückhaltlosigkeitsbeziehungen“, gegen Formen der Integration, die der Mensch mit der Aufgabe seiner „individuellen Persönlichkeit“ bezahlen muss.
Ein Lob an die Gesellschaft
Die Vermengung von Sein und Sollen brachte also kritische Stimmen gegen das ideologische Element der Kategorie auf. Des Weiteren wurde dann aber beschrieben, dass in vielen Situationen gar nicht nach der Gesamtpersönlichkeit verlangt wird. Diese Zweiteilung verrät somit etwas über das Verhältnis von Freiheit und sozialer Kontrolle. Wenn damit ein Synonym für das Natürliche des Menschseins gemeint war, lag eben mehr als eine normative Aussage, sondern bereits eine sozialethische Überhöhung vor.
Während auf der einen Seite also das Lob der Gemeinschaft geradezu überschätzt und absolut gesetzt wird, werden nun Konstellationen benannt, in denen die Gesellschaft gewissermaßen ein Lob erfährt. An die Stelle einer Sozialromantik und den „süßen Klang“ der Gemeinschaft tritt der Blick auf Anlässe und deren Gestaltbarkeit.
Einklang der Wesen
Plessner entwickelte eine Lehre vom Menschen, die sich aus dessen Fähigkeit zu Nähe und Distanz ergibt. Zur „Menschenwürde“ führt der Weg nicht über eine grenzenlose Anerkennung der Gemeinschaftserfordernisse, sondern durch eine nüchterne Sicht auf die „Wesenheit“: „Jedes Zusammenleben trägt den Keim des Aneinandervorbeilebens in sich, weil die Seelen mehr sind, als sie wirklich sind.
Auf die Gnade völligen Einklangs der Wesen lässt sich Gemeinschaft nicht bauen.“ Statt nach dem Dauerhaften und Immergleichen zu suchen, wird nach dem Wesen der jeweiligen Zusammenkunft gefragt, nicht nach dauerhaften Bindungen ohne Auszeiten. Die variierenden Zumutungen des Alltags verlangen nicht ständig nach dem „wahren Gesicht“. Dort, wo etwa taktvolles Verhalten erwartet wird, meistert man heikle Situationen durch den Verzicht auf Widerspruch. Solche Reaktionsmuster sind nicht wirklich festgelegt, ein ideales Verhalten gibt es nicht.
In der Gegenwart verspüren dennoch viele eine Sehnsucht nach Gemeinschaft. Zumindest taucht dieses Element regelmäßig in Diagnosen zur Stimmungslage der Zeit auf.
Michael Jäckel
Was später den Namen „Interaktionssequenzen“ erhielt, folgt somit keinem Automatismus. Diese leben von gegenseitigen Erwartungen, von Dominanz und Rücksicht, von Hierarchien, vom Sprechen und Zuhören, von Zustimmung und Ablehnung oder Duldung. Im Wiederholungsfall lassen sich Lerneffekte beobachten, die dem Ablauf quasi-automatische Züge verleihen können. Die semantischen Anleihen aus der Welt des Theaters sind weit verbreitet: Drehbuch, Partitur, Skript, Regie, Dramaturgie, Vorder- und Hinterbühne. Daraus baut sich für die Beteiligten ein Verhaltensrepertoire auf.
Wer zu einem geselligen Beisammensein eingeladen wird, weiß sehr wohl, dass es hier keineswegs immer „natürlich“ zugeht, also jegliche Konventionen außer Acht gelassen werden können. Selbst dort, wo die Beteiligten von Zwanglosem und Vorübergehendem ausgehen, sind Regeln am Werk. Als sich die Deutsche Gesellschaft für Soziologie im Jahr 1910 in Frankfurt am Main konstituierte, war genau dies eine Botschaft in Georg Simmels Vortrag „Soziologie der Geselligkeit“.
Der Mensch als Energieträger
Der Mensch erscheint nun als Energieträger, der Impulse und Interessen in Vereinigungsformen einbringen kann und damit für wechselnde Erscheinungsformen von „Gesellschaft“ sorgt. Selbstverständlich schließt dies die Wahrnehmung unangenehmer Seiten dieser Interaktionen nicht aus. Rücksichtnahme und Dominanz sind Varianten der „ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft“, die allerdings in gewisser Weise nie als Ganzes auftritt. Die Akteure versetzen sich in die Lage, bezüglich der eigenen Person eine Gatekeeper-Funktion („Torwächter“) zu übernehmen. Wie viel Einlass also gewähre ich? Und was ist der Atmosphäre der Zusammenkunft dienlich?
In der Gegenwart verspüren dennoch viele eine Sehnsucht nach Gemeinschaft. Zumindest taucht dieses Element regelmäßig in Diagnosen zur Stimmungslage der Zeit auf. Gern wird dann das Heimelige der „mikrosoziologische[n] Reservate“ beschrieben. Diese Formen von Solidarität werden in Vereinen und kleinen Netzwerken erlebt und gelebt, auch wenn sie nicht das Leben an sich ausmachen. Sie leisten in der Regel auch mehr als das bloße Beisammensein. Sie gleichen in der Tendenz aber immer häufiger „Anlassgemeinschaften“, sind dennoch nicht, wie die anonyme Öffentlichkeit, ein offenes System, das vorwiegend Begegnungen unverbundener Menschen kennt.
Flucht in Nischen der Sympathie
Im Hinblick auf die Überschaubarkeits-Metapher liest sich das Sorgenbarometer der Moderne wie die ständige Flucht in Nischen der Sympathie, die zugleich Oasen der Verlässlichkeit sein sollen. „Fürsein“ meint dabei das Zusammensein ohne Distanz, das für alle Zeit Ganze und Verbundene. Gleichwohl mit der Absicht, auf die Unwahrscheinlichkeit dieses Allumfassenden hinzuweisen.
Dieser Gegenpol zur „flüchtigen Moderne“ appelliert wieder an das Wesen des Menschen, an ein offenbar kompromissloses Bild der menschlichen Natur. Die Gemeinschaftserlebnisse von heute sind häufig zeitlich begrenzt, an ein bestimmtes Ereignis gebunden. Wer daran teilnimmt – ein Fest, ein Konzert, eine bedeutende Sportveranstaltung – begibt sich in Bindungen ohne Konsequenz, es entstehen kaum Verantwortlichkeiten oder Pflichten.
Viele Wege zu emotionalen Erlebnissen
Immer häufiger ist auch Co-Präsenz entbehrlich. Die Verehrung von Idolen etwa kann ausschließlich auf einer Gemeinschafts-Illusion beruhen. Viele Wege führen zu emotionalen Erlebnissen, die das Gefühl, in einem großen Ganzen aufzugehen, vermitteln. Es wäre angemessen, die Träger dieser Dynamik als Gemeinschaftsvagabunden zu bezeichnen.
100 Jahre nach dem Erscheinen von „Grenzen der Gemeinschaft“ wird der modernen Gesellschaft momentan wieder einmal bewusst, dass die Intensität von sozialen Bindungen mit Nähe und Distanz zu tun hat. Es ist nur selten ein „gegenseitiges Durchdringen bis auf den Grund“.