Austellung im Städel
Annegret Soltau: Ihr Leben ist ihr Material
Annegret Soltau stellt sich selbst und ihre Familienangehörigen immer wieder ins Zentrum ihres Werks - zu sehen in der Ausstellung „Unzensiert. Annegret Soltau – Eine Retrospektive“ im Frankfurter Städel.
Städel Museum – Norbert Miguletz

Seit mehr als 50 Jahren näht sich die Künstlerin durch ihre eigene Biografie, thematisiert unbequeme Themen wie verletzte oder alternde Körper. Das hat ihr lange viel Kritik eingebracht - und jetzt eine große Überblicksschau im Frankfurter Städel.

Frankfurt. Mit Nadel und Faden, also zwei vermeintlich typisch weiblichen Attributen, näht sie sich seit mehr als 50 Jahren durch ihre Biografie, die zugleich die Biografie von vier Generationen ist. Denn Annegret Soltau bezieht auch Großmutter, Mutter und Tochter ein, erweiterte das später um Mann und Sohn. Soltau ist also auf der Suche nach dem eigenen Ich. Zwar war bei vielen Feministinnen in den 1970er-Jahren das Kinderkriegen verpönt. Aber die in Darmstadt lebende Künstlerin ließ sich davon nicht beirren und orientierte sich immer am eigenen Leben. Heute gilt sie als wichtige Vertreterin der frühen Body-Art

„Ihr Leben ist ihr Material, ihr Archiv, aus dem sie schöpft“, sagt Svenja Grosser, die Leiterin der Gegenwartskunst im Frankfurter Städel, über Soltau, die Anfang nächsten Jahres 80 Jahre alt wird. Das Städel ehrt sie schon im Vorfeld mit einer Übersichtsschau von mehr als 80 Werken aus fünf Jahrzehnten geradlinigen Schaffens gegen viele Widerstände. Die Schau verspricht im Titel „Unzensiert“, dass auch umstrittene Werke zu sehen sind, wurden doch Soltaus Bilder einstmals oft abgehängt oder verdeckt. Soga der liberale Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld etwa kippte 1994 sogar eine Bilderserie für ein geplantes Buch.

Mit mehr als 80 Werken gibt die Ausstellung einen umfassenden Einblick in Annegret Soltaus vielschichtiges Gesamtwerk: von Zeichnungen über erweiterte Fotografie und Video bis hin zu Installationen.
Städel Museum – Norbert Miguletz

Weshalb? Die Künstlerin rührt wohl an zu viele Tabus. Sie zeigt nackte Frauen mit deformierten oder alternden Körpern. Diese Bilder gehen unter die Haut und lassen manche auch aus der Haut fahren. Die Bilder sind eigentlich Fotoschnipsel, die Soltau mit Nadel und Faden neu zusammenfügt, oft sehr gewagt. Die Risse, Einstiche und Fäden sind deutlich zu sehen, zudem vertauscht Soltau auch die Körperteile. Ihre Ich-Suche ist also geprägt von verletzten Gesichtern und Körpern.

Die 1993 begonnene „Generativ“-Serie mit Großmutter, Mutter, Künstlerin und Tochter ist besonders wichtig, da sie oft Anstoß erregte. Die vier Frauen sind nackt, aber die reifen Brüste der Urgroßmutter hat jetzt die Enkelin, dafür hat die alte Dame ein faltenfreies Gesicht. Diese und andere zentrale Bilder hängen gleich im ersten Raum, bevor das Werk chronologisch gezeigt wird. Denn Soltau versteht sich nicht als Fotokünstlerin, sie kommt vom Zeichnen und Radieren her, das sie sich an der Kunsthochschule selbst beigebracht hatte, da in den bewegten 60er-Jahren mehr politisiert als gelehrt wurde.

Der Körper ist politisch – das zeigen die Arbeiten der Künstlerin Annegret Soltau (*1946) wirkungsvoll. Seit den 1970er-Jahren erregt ihre Kunst Aufsehen und hat bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren.
Städel Museum – Norbert Miguletz

In frühen Radierungen der 70er-Jahre zerkratzte sie ihr Abbild mit der Nadel immer weiter, bis alles schwarz war. Folglich handelt es sich oft um Originale, viele von ihnen kommen direkt aus Soltaus Atelier. Die Zeichnungen indes zeigen von Linien umhüllte Menschen, die Fotos zeigen von Fäden umwickelte Gesichter. Doch diese zart-fragile Ästhetik kippte um, als Soltau schonungslos in die Körper hineinschnitt. Ihr geht es um Schwangerschaft und Mutterdasein, um den weiblichen Körper und dessen Alterungsprozess.

So zieht sich der schwarze Faden strikt durch ihr Werk, erst in zeichnerischer Form, dann als Garn durch die Porträts. Soltau seziert die Gesichter und Körper nicht fein säuberlich wie ein Chirurg, sondern zerreißt sie grob, um sie wieder anders zusammenzusetzen. Glücklicherweise zeigt das Städel auch die Bildrückseiten mit ihren Flicken und Fäden. Diese Fotos sind schön und hässlich zugleich, sie schockieren und provozieren. Doch mit der neuen Prüderie der heutigen Zeit scheint wieder der alte Spruch aktuell zu sein, dass das Private auch politisch ist – bei Soltau fließen Kunst und Privatleben ineinander.

Auf ewiger Suche nach dem Vater

Bis heute sucht sie nach ihrem Vater, der wohl im Zweiten Weltkrieg gestorben ist. Für die Suche schnitt sie ihr Porträt aus und fügte Briefe vom Roten Kreuz oder Landkarten ein. Seit 2003 arbeitet sie an „Personal Identity“, bei der sie auch ihr Foto entfernt und dafür ihre Geburtsurkunde oder die Bankkarte einfügt. Das Ende der Serie soll die Tochter nach dem Tod der Mutter ausführen und in ein entkerntes Foto die Sterbeurkunde einfügen. So schließt sich der Kreis von Soltaus Identitätssuche.

Bis 17. August, Infos unter www.staedelmuseum.de