Erasure-Sänger im Interview
Andy Bell: „Musik kann eine heilende Wirkung haben“
Das Leben zu umarmen, auch während man gegen innere und äußere Dämonen kämpft: Darum geht es laut Andy Bell in seinem neuen Album "Ten Crwons". Im Juni kommt der Erasure-Sänger zum Konzert ins Kölner Gloria-Theater.
Steve C Mitchell. picture alliance / dpa

Mit seinem dritten Soloalbum „Ten Crowns“ kommt Erasure-Sänger Andy Bell im Juni nach Köln. Mit uns spricht er vorab über den Kampf gegen Dämonen, einen besonderen Wunsch für seine weitere Karriere und einen wahr gewordenen Traum auf der neuen Platte

Andy Bell ist seit fast 40 Jahren die unverkennbare Stimme von Erasure und eine Ikone der Synthiepop-Welt. Mit Hits wie „A Little Respect“ und „Always“ prägte er gemeinsam mit Keyboarder Vince Clarke eine ganze Generation – doch auch als Solokünstler zeigt er immer wieder neue Facetten. Nun meldet sich der 60-jährige Brite mit seinem dritten Soloalbum „Ten Crowns“ zurück und bringt dieses am 16. Juni auch mit zum Konzert im Kölner Gloria-Theater. Unsere Zeitung hat vorab mit ihm gesprochen.

Mister Bell, wie fühlt es sich an, mal wieder solo unterwegs zu sein? Vince Clarke ist auf dem neuen Album nicht an Ihrer Seite.

Es ist sehr spannend, etwas ganz allein zu veröffentlichen. Aber es erfordert auch ein starkes Team im Hintergrund, dessen Bedeutung mir zuvor nicht so bewusst war. Bei Erasure gab es bereits eine funktionierendeMaschinerie, die ich für selbstverständlich gehalten habe – was ich nicht hätte tun sollen. Jetzt habe ich viel mehr Respekt für die Menschen, die all diese harte Arbeit leisten.

Ging es Ihnen am Anfang Ihrer Karriere ähnlich, oder haben Sie damals gar nicht so viel darüber nachgedacht?

Als Musiker oder Künstler denkt man oft, mit der Fertigstellung des Albums sei alles getan – dabei beginnt die eigentliche Arbeit erst danach. Ich weiß nicht, wie junge Künstler es schaffen, ihr Leben rund um die Uhr in den sozialen Netzwerken offenzulegen. Das könnte ich nicht ertragen. Vince war immer eine Art Schutzschild für mich. Negative Kommentare konnte ich durch ihn besser abprallen lassen, weil er einen großartigen Humor hat und die Musikindustrie genau als das sieht, was sie ist. Er hatte nie Angst, Nein zu sagen – etwas, das ich erst lernen musste. Ich liebe meine beiden vorherigen Soloalben immer noch, aber ich höre darin meine frühere Naivität heraus und schätze, wie ich mich als Songwriter weiterentwickelt habe.

„Es geht um die Erkenntnis, dass man den Himmel tatsächlich hier auf Erden erschaffen kann – sei es in der eigenen Vorstellung oder an einem realen Ort.“
Andy Bell über die Kernbotschaft seines neuen Songs „Dawn Of Heaven’s Gate“

Wie unterscheidet sich die Arbeit als Solokünstler denn von der Arbeit bei Erasure?

Man arbeitet eigentlich nie wirklich solo, weil ich immer Co-Autoren brauche. Ich liebe es, mit anderen Menschen zu arbeiten – dadurch entsteht ein kreativer Austausch auf einer ganz anderen Ebene. Es gibt keine Erwartungen, und man startet quasi bei null. In gewisser Weise ist das befreiend, weil Erasure eine ganz eigene Identität hat. Aber ich liebe es auch, mit Vince zu arbeiten, weil wir uns sehr nahestehen und gleichzeitig unabhängig voneinander sind. Wir haben eine ähnliche Perspektive auf die Welt.

Spielen Sie Vince Ihre Solosongs vor und fragen ihn nach seiner Meinung?

Ja, aber erst, wenn ich das Gefühl habe, dass sie in einer Form sind, die seinem geschulten Gehör und seiner Erfahrung gerecht wird.

Die neuen Songs sind fröhliche Pop-Dance-Tracks. Ihre Stimme macht sie unverkennbar zu Liedern, die man sofort mit Ihnen verbindet. Würden Sie sagen, es könnten auch Erasure-Songs sein?

Eigentlich nicht, weil unsere Zusammenarbeit eine ganz eigene Dynamik hat – und natürlich wegen Vinces einzigartiger Art, Sounds zu gestalten. Außerdem gibt es in Erasure-Songs oft eine gewisse Dringlichkeit oder innere Spannung, die die Leidenschaft, den Antrieb oder die Schönheit der Musik verstärkt.

Auf dem Cover Ihres neuen Albums ist eine Goldmünze mit Ihrem Gesicht darauf zu sehen. Was steckt dahinter?

Es gibt keine besondere Geschichte dazu, außer dass ich mich erinnere, wie wir in Großbritannien 1971 unsere Währung von imperialen auf metrische Maße umgestellt haben, als das Land der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitrat. Zufälligerweise wurden Helen Adams, das beliebteste Mädchen in derSchule, und ich in diesem Jahr zum Mai-König und zur Mai-Königin gekrönt. Außerdem ist „Ten Crowns“ (zehn Kronen) eine Anspielung auf das alte Geldsystem und erinnert mich an die „Zehn der Münzen“ im Tarot – ein Symbol für den Baum des Lebens, das als sehr schützend und heilig gilt. Und im vergangenen Jahr hatte ich genau zehn Kronen auf meinen Zähnen.

Andy Bell (vorn) zusammen mit dem Erasure-Keyboarder Vince Clarke bei einem Auftritt in Lima 2011
Paul Vallejos. picture alliance/dpa/epa

Mit „Heart’s A Liar“ gibt es auf der neuen Platte einen Song mit Debbie Harry, die Sie bewundern. Wie war die Zusammenarbeit mit ihr?

Ich würde es als eine glückliche, universelle Fügung bezeichnen. Ich fühle mich sehr privilegiert, dass Debbie auf einem Song mit mir singt – das ist eine große Ehre! Es ist, als würde man mit einer Hollywood-Legende in einem Film mitspielen – nur eben aus der goldenen Ära der Musik. Eine echte, gegenseitige Bewunderung ist in dieser Branche selten, weil es oft nur um geschäftliche Kalküle geht. Doch das hier war nicht geplant – und genau deshalb ist es so besonders. Die Bestätigung von einem Idol aus der eigenen Jugend zu bekommen, fühlt sich an wie ein Geschenk des Himmels.

„Dawn Of Heaven’s Gate“ beschäftigt sich teilweise mit der Frage, warum wir nicht alle einfach miteinander auskommen können. Haben Sie darauf eine Antwort?

Es geht weniger um die Frage „Warum können wir nicht alle miteinander auskommen?“, sondern vielmehr um die Erkenntnis, dass man den Himmel tatsächlich hier auf Erden erschaffen kann – sei es in der eigenen Vorstellungoder an einem realen Ort. Die Menschheit hat so viel zerstört, weil wir egoistisch und gierig sind. Ausbeutung ist keine Tugend, und es ist arrogant, andere Menschen oder Lebewesen als minderwertig zu betrachten – so etwas hat weder in der Religion noch in der Gesellschaft einen Platz.

Sie haben einmal gesagt: „Das ganze Album fühlt sich an wie ein Flehen um Erlösung in einer Welt, in der am Ende doch jeder nur geliebt werden will.“ Kann Musik wirklich heilen?

Musik kennt keine Grenzen, auch wenn der Zugang dazu von großen Konzernen kontrolliert wird und uns – wie alles andere – vorgefiltert serviert wird. Dennoch glaube ich, dass Musik eine heilende Wirkung auf spiritueller Ebene haben kann – und dass sie Menschen in einem feierlichen Moment zusammenbringt.

Bei den neuen Liedern geht es darum, das Leben zu umarmen – auch während man gegen innere und äußere Dämonen kämpft. Was meinen Sie damit?

Es geht darum, wie wir mit dem nie endenden Strom schrecklicher Nachrichten umgehen. Wenn wir diese Katastrophen mit eigenen Augen sehen würden und die Auswirkungen unseres Handelns wirklich begreifen könnten, dann würden wir die Dinge vielleicht aus der Perspektive der betroffenen Menschen sehen – jener, die täglich ums Überleben kämpfen. Doch wir sind ständig abgelenkt und darauf programmiert, durch Konsum Glück zu finden – aber das ist kein echtes Leben.

„Ich fühle mich Deutschland verbunden, weil Deutsch meine zweite Sprache ist und ich die Direktheit der Menschen schätze.“
Andy Bell

Welche Dämonen tragen Sie in sich?

Ich glaube, jeder Mensch hat eine dunkle Seite, und tief in uns sind wir alle wilde Tiere. Aber dieses „Biest“ muss gezähmt werden – durch Ehrlichkeit und Freundlichkeit.

Sie sind einer der erfolgreichsten Popstars Großbritanniens – haben Sie trotzdem noch einen Wunsch?

Es ist vielleicht eitel, aber ich würde gern als Weltklasse-Entertainer und Künstler bekannt sein – nicht auf eine arrogante Weise, sondern einfach als Anerkennung für meine Arbeit. Vielleicht ist das gar nicht möglich.

Sie sind ein großer Tanzfan und sind früher mit Ihren Eltern tanzen gegangen. Heute gehen Sie zwar nicht mehr in Clubs, aber was bedeutet Tanzen noch für Sie?

Ich liebe es immer noch, zu tanzen, aber ich muss inspiriert werden. Man muss nur „I Feel Love“ oder „What Is Love?“ spielen.

Ihre Karriere dauert nun schon 40 Jahre. Wie blicken Sie zurück?

Ich blicke nicht zurück. Ich war ein Junge, jetzt bin ich – angeblich – ein Mann, aber ich fühle mich immer noch wie ein Junge. Und würde ich alles noch einmal machen? Nein, denn ich habe es ja bereits getan.

Sie kommen für sechs Konzerte nach Deutschland. Welche Verbindung gibt es da?

Ich fühle mich Deutschland verbunden, weil Deutsch meine zweite Sprache ist und ich die Direktheit der Menschen schätze. Außerdem haben unsere Länder eine komplexe gemeinsame Geschichte – wir haben einst gegeneinander gekämpft und sind danach wieder Freunde geworden. Das gibt mir Hoffnung.

Andy Bell: „Ten Crowns“, Pias/Crown Recordings, CD/Vinyl; Karten für das Konzert am Montag, 16. Juni, um 20 Uhr im Gloria-Theater in Köln gibt’s online unter www.eventim.de