Der Lahnsteiner Starfotograf Hans-Jürgen Burkard hat das Land auf seine ganz eigene Weise porträtiert −Fotos sind bald in Koblenz zu sehen
„An Tagen wie diesen“: Starfotograf Hans-Jürgen Burkard zeigt seine einzigartige Deutschland-Serie in Koblenz
Hitchcock-Moment auf der Zugspitze: Die ihn umkreisenden Alpendohlen lockte Hans-Jürgen Burkard mit zwei Kilogramm Rosinen aus dem Supermarkt an. Die Touristen im Hintergrund riefen: „Hey Hitchcock!“ oder „Look at the birdman“.
Hans-Jürgen Burkard

Er hat den Tschetschenien-Krieg dokumentiert, Hungerkatastrophen im Südsudan, das Elend in brasilianischen Slums: Hans-Jürgen Burkard gilt als einer der weltweit besten Reportagefotografen, wurde für seine Arbeit mit mehreren World Press Awards geehrt. Sein wohl persönlichstes Projekt jedoch verfolgt der Lahnsteiner seit 2013 mit der Serie „An Tagen wie diesen“, in der er Deutschland auf seine ganz eigene Art porträtiert. Vor der Ausstellung im Landesmuseum Koblenz haben wir mit ihm gesprochen.

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Hitchcock-Moment auf der Zugspitze: Die ihn umkreisenden Alpendohlen lockte Hans-Jürgen Burkard mit zwei Kilogramm Rosinen aus dem Supermarkt an. Die Touristen im Hintergrund riefen: „Hey Hitchcock!“ oder „Look at the birdman“.
Hans-Jürgen Burkard

Herr Burkard, Ihr Projekt „An Tagen wie diesen“ begann 2013 mit einer Auftragsarbeit für den „Stern“. Damals sollten Sie die Atmosphäre in Deutschland vor der Bundestagswahl festhalten, haben danach aber einfach weitergemacht, sind weitergefahren mit Ihrem E-Bike, gut 20.000 Kilometer – bis heute. Woher kommt diese Ausdauer?

Naja, Ausdauer ist bei großen Reportagen grundsätzlich unabdingbar, das gilt vor allem auch für meine Zeit in Russland, wo ich beispielsweise ein halbes Jahr lang an einer Serie über die Mafia gearbeitet habe. Die Idee zu den nun in Koblenz gezeigten Fotos wiederum kam im Zuge der von Ihnen angesprochenen Auftragsarbeit. Die „Stern“-Autorin Silke Müller hat mir damals etwa 200 junge deutschsprachige Liedtexte in die Hand gedrückt und gefragt, ob ich mir nicht eine Serie vorstellen könnte, die diese Songs mit passenden Motiven aus unserem Land verbindet. So kam es dann zu meiner Deutschland-Reise, auf der ich mich von der Musik habe inspirieren lassen.

Nichtsdestotrotz war dieses Projekt vermutlich nicht auf zehn Jahre ausgelegt, die in der Zwischenzeit vergangen sind. Was reizt Sie also daran, die Fotoserie stetig fortzuführen?

Ich bewege mich mit 71 Jahren zunächst einmal oberhalb der üblichen Altersgrenze für meinen Beruf, habe aber noch lange nicht vor, den Löffel abzugeben, verspüre immer noch den Drive und Ansporn, als Fotograf zu arbeiten. Das ist mein Leben, aber ich muss nicht mehr auf die Tonga-Inseln, um dort den König abzulichten, in den Südsudan oder nach Angola, in Kriegs- oder Krisengebiete, in denen ich früher oft war. Ich finde es einfach schön, auf meine alten Tage nun auch Erfahrungen in meinem eigenen Land zu sammeln, die ich bislang schlichtweg verpasst habe, weil ich beruflich fast immer nur im Ausland unterwegs war.

Buchpublikation. An Tagen wie diesen. Pressebilder
Public Viewing mal anders: Fußballfans schauen im Stadion Alte Försterei in Berlin ein Spiel der Weltmeisterschaft 2014. Eines von rund 200 Beispielen dafür, wie Hans-Jürgen Burkard Deutschland in seinen Fotos eingefangen hat.
Hans-Jürgen Burkard

Das Projekt haben Sie – passend dazu – auch mal als „ganz persönliche fotografische Neuentdeckung“ Ihrer Heimat bezeichnet.

Das stimmt, weil unser Land einfach unheimlich vielfältig ist. Wenn Sie von Sylt zur Zugspitze, von der Lausitz bis ins Saarland fahren, begegnen Sie unterschiedlichsten Menschen und Landschaften. Selbst wenn ich 150 Jahre alt würde, könnte ich immer noch durchs Land ziehen und ständig neue Facetten entdecken. Vor allem, wenn Sie wie ich mit dem Fahrrad unterwegs sind, mit Leuten ins Gespräch kommen, Dinge sehen, die Sie sonst im Auto gar nicht wahrnehmen. Auf diese Weise habe ich mich meiner Heimat in den zurückliegenden Jahren gewissermaßen aufs Neue angenähert und dabei festgestellt, dass wir – bei aller teils berechtigten Kritik – doch in einem sehr, sehr lebenswerten und schönen Land wohnen.

Daneben war das Projekt für mich aber auch eine berufliche Neuentdeckung: Früher habe ich immer in Reportagen gedacht, in einem erzählerischen Fluss. Bei der Reise durch Deutschland hingegen ist jede Aufnahme ein Einzelbild, bei dem ich im übertragenen Sinn einen Schritt zurücktrete, ein Foto mache, dem Betrachter aber zugleich auch die Möglichkeit gebe, das Bild aus seiner eigenen Lebenswirklichkeit heraus zu interpretieren. Zu deren Entstehungsgeschichten gibt es übrigens im Buch zur Serie ebenso wie in der Ausstellung selbst kurze Texte. Der Betrachter wird mit den Fotos also nicht allein gelassen und kann das Gezeigte leichter nachvollziehen.

Wenn ich zum Beispiel durch das Lahntal fahre, die verschachtelten Felder und kleinen Dörfer sehe, aus denen die Kirchtürme wie abgebrochene Backenzähne ragen, dann überkommt mich so ein Heimatgefühl, das ich früher nie kannte.

Hans-Jürgen Burkard

Wie würden Sie selbst denn den Geist der Bildersammlung beschreiben? Was zeichnet sie aus?

Die Serie ist ein sehr subjektiver, oft vom Zufall geprägter Panoramablick auf die deutsche Welt, keine vollständige Dokumentation, die das Land erklärt, sondern Impressionen einer persönlichen Reise. Wobei die unterwegs gemachten Erfahrungen für mich der größte Gewinn waren – wenn man etwa auf dem Evangelischen Kirchentag zwischen zwei katholischen Benediktinerinnen sitzt, Rammstein-Fans in Wacken trifft, die Roten Funken beim Frühstück vor dem Rosenmontagszug in Köln fotografiert oder die Champagner schlürfenden Gäste beim Dresdener Opernball.

Die Songs und deren Texte waren dabei eine zusätzliche Erfahrungsebene. Die Lieder kannte ich bis dahin kaum, obwohl es oft wahnsinnig schöne Texte sind. Wenn ich dann bestimmte Motive gesehen habe – bei Rock am Ring beispielsweise eine junge Frau, die euphorisch in die Hände klatschte – fielen mir die Texte ein, in diesem Fall „Applaus, Applaus“ von den Sportfreunden Stiller, und ich wusste, ich muss das fotografieren.

Buchpublikation "An Tagen wie diesen"
Im Hamburger Stadtteil St. Pauli wartet die Bereitschaftspolizei auf Demonstranten - vor einem Schaufenster, in dem die ortsüblichen Uniformen der sonst dort arbeitenden Damen zu finden sind.
Hans-Jürgen Burkard

Dabei spielt auf einem Bild etwa auch der Song „Guten Morgen Herzinfarkt“ von Casper eine Rolle.

Richtig, bei einem Treffen unserer alten Abschlussklasse erzählte mir ein ehemaliger Kommilitone, dass er nach einer Bypassoperation gerade aus dem Krankenhaus gekommen war. Da habe ich ihm gesagt: „Hemd hoch“, die Narbe fotografiert, nah draufgehalten, weil ich die Brutalität dieses Umstands festhalten wollte. Auch das gehört schließlich zu Deutschland: Wir sind ein Wohlstandsstaat, in dem die Zivilisationskrankheiten wie Herzinfarkte zunehmen.

Insofern kann man wohl davon ausgehen, dass mit den Fotos auch Ihre Sammlung deutschsprachiger Texte gewachsen ist.

Ich bin ein passionierter Radiohörer und schalte inzwischen ganz bewusst auch die Sender ein, auf denen viel deutsche Musik läuft. Wenn ich dort Texte höre, die mich interessieren, mache ich mir Notizen und überlege: „Hast du das dazu passende Motiv eigentlich schon fotografiert?“ Manchmal sehe ich auch im Fernsehen oder Internet etwas, das mich auf eine neue Idee bringt. Es gibt beispielsweise Kurse, in denen Leute üben, mit einer bunten Flosse zu schwimmen – wie Meerjungfrauen. Auch das will ich demnächst unbedingt mal fotografieren.

Hans-Jürgen Burkard
Hans-Jürgen Burkard

Heißt: Die Serie „An Tagen wie diesen“ wird auch künftig weiter wachsen.

Ja, ich habe festgestellt, dass diese Bilder auf ein extrem großes Interesse stoßen. Zuletzt habe ich die Serie beispielsweise in der Leica Galerie in Konstanz gezeigt, wo mir die Betreiber sagten, es sei die mit Abstand bestbesuchte Ausstellung gewesen, die sie jemals hatten. Das mag auch daran liegen, dass es mir wichtig ist, Fotos zu machen, die auch von „normalen“ Menschen gelesen werden können. Die Kunstfotografie, die oft in Museen und Galerien zu finden ist, lässt sich in den meisten Fällen nur von visuellen Eliten decodieren. Ich möchte hingegen, dass meine Bilder auch von meiner fast 100-jährigen Mutter verstanden werden, die ihr Leben lang nur gearbeitet, daneben fünf Kinder großgezogen hat und nie im Museum war.

Nun ist das Projekt allerdings nicht nur eines der Fotos, sondern auch der Geschichten dahinter. Welche ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Es gibt eine Menge Anekdoten rund um die Serie. Was mir jetzt spontan einfällt: Ich war mal in einem Swingerclub in Cottbus, auf einer Art Maskenball. In den Bereich, in dem es etwas wilder zuging, durfte man nur nackt, also habe ich mich ausgezogen, erst mal die Location gecheckt, die Fotos, die letztlich im „Stern“ erschienen sind, dann aber später in einem anderen Bereich bekleidet geschossen.

Kurz darauf rief mich ein Mann aus der Oberpfalz an, der glaubte, anhand eines markanten Rings auf einem der Bilder – es trugen ja alle Maske – seine Frau erkannt zu haben, die am Tag der Aufnahme eigentlich zu einer Freundin nach Berlin wollte. Wir hatten aus Sicherheitsgründen die Pässe derer, die fotografiert wurden, kopiert; sie mussten unterschreiben, dass sie einverstanden sind mit dem Abdruck. Also habe ich in den Pässen nachgeschaut und konnte den Mann schließlich beruhigen, da der Name seiner Frau nicht dabei war. Die Beziehung war also vorerst gerettet.

Zugleich spielt „An Tagen wie diesen“ immer auch mit Klischees. Was ist denn typisch Deutsch? Gibt es das überhaupt?

Natürlich gibt es noch Klischees und die klassischen deutschen Tugenden, doch wir leben heute in einem Zeitalter der Globalisierung, unser Land wird internationaler und multikultureller. Visuell typisch Deutsch sind für mich vor allem bestimmte Landschaften und deren Architektur. Wenn ich zum Beispiel durch das Lahntal fahre, die verschachtelten Felder und kleinen Dörfer sehe, aus denen die Kirchtürme wie abgebrochene Backenzähne ragen, dann überkommt mich so ein Heimatgefühl, das ich früher nie kannte, dann fühl ich mich auf einmal zu Hause.

Das Gespräch führte Stefan Schalles

Die Ausstellung ist im Landesmuseum Koblenz vom 30. Juni bis zum 1. November zu sehen. Weitere Infos auch online.