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Birkenfeld/Bad Kreuznach

WAHL-ZEIT Duell Lezius/Weingarten (4): Pflege – Entscheidung zwischen Leben und Tod

Von Vera Müller
Antje Lezius (CDU) und Joe Weingarten (SPD), die beiden favorisierten Direktkandidaten, stellten sich in der NZ-Redaktion den Fragen von Carolin Totten und NZ-Redakteurin Vera Müller (rechts).  Foto: Reiner Drumm
Antje Lezius (CDU) und Joe Weingarten (SPD), die beiden favorisierten Direktkandidaten, stellten sich in der NZ-Redaktion den Fragen von Carolin Totten und NZ-Redakteurin Vera Müller (rechts). Foto: Reiner Drumm

Am Ende des Personals ist noch viel Monat übrig. Und wenn die Pflegekräfte nicht gestorben sind, dann dokumentieren sie noch heute. Sätze, die Carolin Totten, im Kirner Diakonie-Krankenhaus als Krankenschwester tätig, kennt – und denen sie nur zustimmen kann. Die Pflegeproblematik – im Wahlkampf auf Bundesebene eher kein Thema, obwohl sie jeden betreffen kann – steht in der vierten Bürger-Wahlzeit unserer Zeitung im Fokus.

Lesezeit: 2 Minuten
Antje Lezius (CDU) und Joe Weingarten (SPD), die beiden favorisierten Direktkandidaten im Bundestagswahlkreis Bad Kreuznach-Birkenfeld, stellten sich in der NZ-Redaktion den Fragen des Sulzbacherin Carolin Totten. Keine Zeit für Patienten, maximale Arbeitsbelastung, fragwürdige Fallpauschalen, die betriebswirtschaftliches Denken statt Ethik in den Fokus rücken, aufwendige Dokumentationen: Totten macht mit Nachdruck auf den ...
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Carolin Totten: Ohne eine gesetzliche Regelung wird sich nichts ändern

Carolin Totten ist seit 2004 staatlich examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin und arbeitet seit 2006 in der Inneren Abteilung im Diakonie-Krankenhaus Kirn.

Frau Totten, das komplexe Pflege-Dilemma in einem Satz erklärt …

Sinkender Personalstand bei gestiegenen Anforderungen!

Worin sehen Sie das Hauptproblem?

Die Personalausstattungen auf den Stationen bestimmen die Qualität der Pflege. Je mehr Pflegekräfte auf den Stationen arbeiten, desto weniger oft kommen Infektionen vor, desto seltener werden falsche Medikamente ausgegeben. Deutlicher gesagt: Je mehr Personal, desto weniger Leute sterben nach und während einer Behandlung.

Wie erleben Sie und Ihre Kollegen die Arbeitsverdichtung?

Wir geben unser Bestes, arbeiten gewissenhaft. Dennoch: Die Belastung wirkt sich in allen Kliniken verständlicherweise nicht positiv auf die Arbeitszufriedenheit des Personals aus. Hinzu kommt: Es gibt keine Reserven für Spitzenbelastungen. Der Dienstplan ist so eng getaktet, dass kein Spielraum für Eventualitäten existiert. Würde jeder nur Dienst nach Dienstplan machen und nicht einspringen, dann könnten die Kliniken permanent Dienste nicht besetzen.

Die Kliniken bemängeln, sie finden kein Personal …

Es ist ein Zustand erreicht, der nicht hingenommen werden kann. Einerseits kann eine am Pflegebedarf orientierte Personalausstattung dazu führen, dass die bereits berufstätigen Pflegekräfte entlastet werden. Damit wird es den Pflegenden ermöglicht, länger im Pflegeberuf zu verbleiben, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Andererseits drückt eine verbesserte Personalausstattung eine erhöhte gesellschaftliche Wertschätzung für die Pflegenden aus. Somit wäre der Pflegeberuf attraktiver und im Ausbildungsbereich stärker nachgefragt.

Welche sind aus Ihrer Sicht die Grundlagen für eine verbesserte Pflegesituation?

Unter anderem eine gesetzlich verankerte Personalbemessung in allen Bereichen. Diese muss sich auf Personalstärke und Qualifikation beziehen. Es muss festgelegt werden, wie viele Kräfte in einer Schicht eingesetzt werden und welche Qualifikation sie vorweisen müssen. Die Kliniken dürfen dabei nicht allein gelassen werden. Sie müssen zweckgebundene Mittel bekommen, hier müssen Bund und Kassen unterstützen. Ohne eine gesetzliche Regelung wird sich nichts ändern.

Personalnot triff die Patienten – Lezius: Haben viel getan – Weingarten: Reicht noch lange nicht

Bürger-Wahlzeit in der Redaktion der Nahe-Zeitung im Idar-Obersteiner Kennedycenter: Antje Lezius (CDU) und Joe Weingarten (SPD), die beiden favorisierten Direktkandidaten für den Sieg im Wahlkreis Bad Kreuznach-Birkenfeld, stellen sich den Fragen von Menschen, die für ganz bestimmte Themen stehen. Im vierten Block geht es um die Pflegeproblematik.

Dazu befragt Carolin Totten aus Sulzbach, seit 2006 im Diakonie-Krankenhaus Kirn als Gesundheits- und Krankenpflegerin (früher hieß das schlicht Krankenschwester) tätig, die beiden Kandidaten.

Wobei es das Verb „befragen“ nicht in Gänze trifft: Die 33-jährige Mutter einer kleinen Tochter redet den beiden Kandidaten eher eindringlich ins Gewissen. Es macht sich schnell eine gewisse Betroffenheit breit – weil das Thema jeden treffen kann: „Es ist nicht fünf vor zwölf, auch nicht fünf nach zwölf, sondern halb eins.“

Und das gelte nicht nur für „ihr“ Krankenhaus, betont sie mit Nachdruck: Sie schätze ihren Arbeitgeber sehr, sei Teil eines großartigen Teams: „Es gibt aber keine Reserven für Spitzenbelastungen. Der Dienstplan ist so eng getaktet, dass kein Spielraum für Eventualitäten existiert: Wird jemand krank, gerät alles durcheinander. Urlaubspläne erstellen – eine Aufgabe, um die keine Stationsleitung beneidet wird.“

Ohne das ständige freiwillige Einspringen aus der Freizeit heraus, ohne das Übernehmen von Überstunden, wäre das ganze „Kartenhaus“ aus ihrer Sicht schon längst zusammengestürzt. Das Einspringen kann übrigens laut Gesetz abgelehnt werden: „Wenn der Dienstplan aushängt, gilt er. Da muss keiner anders arbeiten, als geplant.“ Die Arbeitgeber bauen aber auf das Helfersyndrom ihres Personals, das im Pflegeberuf nun mal ausgeprägt vorhanden ist: „Niemand will seinen Kollegen allein eine Schicht schieben lassen, man springt ein und hilft aus, weil man weiß, wie es ist, und weil man an die Patienten denkt. Die sind nämlich die Leidtragenden bei allem.“

Konkret heiße das: „Würde jeder nur Dienst nach Dienstplan machen und nicht einspringen, dann könnten die Kliniken permanent Dienste nicht besetzen. Nicht nur nicht minimal besetzen, sondern gar nicht besetzen. Das ist Fakt.“

Totten berichtet den Kandidaten von einer Flut an Formularen: Die Dokumentation insbesondere bei den Pflegepatienten, die nach den Kriterien als „hochaufwendig“ eingestuft werden, sei sehr zeitraubend, müsse ausführlichst erfolgen. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) überprüft engmaschig Patienten-Akten und lehnt konsequent die Anerkennungen (und Bezahlung) ab, wenn ihrer Meinung nach nicht ausreichend genug dokumentiert wurde: Schreibtischarbeit ohne Ende, ohne sich um die kümmern zu können, die im Fokus stehen müssten: nämlich die Patienten, kritisiert Totten.

Für Weingarten ist die Pflegethematik die größte Herausforderung der nächsten Jahre, das sei ihm während des Wahlkampfs eindeutig bewusst geworden: Unter anderem setzt er sich dafür ein, funktionierende, moderne Technik zu nutzen, um der Dokumentationsbelastung zumindest teilweise den Boden zu entziehen: „Da muss man zunächst einmal investieren.“ Zudem müsse Geld ins System gesteckt werden: „Das werden wohl auch Steuermittel sein müssen.“

Lezius kommentiert: „Die Digitalisierung bietet in diesem Bereich Chancen. An rechtlichen Absicherungen führt ja kein Weg vorbei.“ Sie verweist auf Investitionen der Bundesregierung in Milliardenhöhe: „Es kommt vielleicht nicht so an der Basis an – oder auch noch nicht so an, wie das wünschenswert wäre.“ Viel sei nachweislich vor allem im Bereich der Altenpflege, der Pflege durch Angehörige und in der Hospizarbeit getan worden.

Weingarten weiter: „An der ganzen Problematik hängt auch der Schwanz der Krankenkassenpolitik hintendran. Und bei der jetzigen Gehaltsstruktur findet man kein Personal.“ Totten mahnt: „Die Schuld wird hier seit Jahren hin- und hergeschoben, ohne dass sich etwas ändert.“

Lezius räumt ein: „Es wurde viel zu lange nichts getan, weil man kein Geld dafür hatte. Das ist jetzt anders.“ Weingarten blickt in die Zukunft: „Wir reden hier über noch nicht überschaubare Summen. Man muss schrittweise vorgehen. Dazu kommt ja noch der Mangel an Allgemeinmedizinern und Fachärzten in der der ländlichen Region. Davon sind ja auch Bereiche im Kreis Birkenfeld massiv betroffen.“

In der Pflege muss es das Ziel sein, das Beste für Patienten und Heilberufe herauszuholen, sind sich die Kandidaten einig. Größten Respekt zollen beide den Frauen und Männern an der Pflegebasis, die hervorragende Arbeit leisteten.

Weingarten betont: „Es kann sein, dass wir in vier Jahren wieder hier sitzen, sich manches verbessert hat, es aber immer noch nicht reicht und wir noch draufpacken müssen.“ Vera Müller

Das sagen die anderen Bundestagskandidaten zum Thema “Pflege":

Herbert Drumm (68/Freie Wähler) Bad Kreuznach

Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Versorgungsqualität durch betriebswirtschaftliche Zwänge leidet.

Wir müssen dringend dafür sorgen, dass die pflegerischen Berufe mehr Anerkennung erfahren. Dies sollte durch bessere Qualifikationschancen (Studium), faire Bezahlung, ordentliche Arbeitsbedingungen und ausreichende Personalstärken zum Ausdruck kommen.

Auch Ausfälle oder Spitzenzeiten müssen durch zusätzliche Kräfte ausgeglichen werden. Dies wird wahrscheinlich nur durch einen gesetzlich verankerten Personalschlüssel zu erreichen sein, verbunden mit Qualitätsvorgaben. Eine zivilisierte Gesellschaft, der ein langes Leben in Gesundheit und im letzten Lebensabschnitt eine menschenwürdige Pflege wichtig sind, muss dafür die notwendigen Mittel bereitstellen.

Wir müssen bereit sein, über Krankenversicherung, Pflegeversicherung und durch mehr staatliche Zuschüsse unser Pflegesystem auf hohem Niveau zu erhalten.

Lothar Ackermann (63) aus Idar-Oberstein

Carolin Totten hat die Probleme bei der Krankenpflege in Krankenhäusern, wie ich sie in meinem familiären Umfeld auch erlebe, sehr treffend geschildert.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Verweilzeiten der Patienten in den Kliniken verkürzt, sodass monatlich eine größere Anzahl zu betreuen ist.Zu dem Umstand der Überforderung des Systems und der Beanspruchung der Pflegekräfte und zum Teil auch der Ärzte tragen in großem Maße die enorm angewachsenen Dokumentationspflichten bei.

Leider sind die IT-Systeme der Krankenhäuser im Vergleich zu anderen Bereichen der Wirtschaft noch im Steinzeitalter. Es wurde bisher versäumt nachzurüsten und die Möglichkeiten von digitaler Datenerfassung am Patienten voll zu nutzen, was zu enormen Zeitersparnissen beim Pflegepersonal führen könnte.

Hierzu sind Investitionen notwendig, die die Verantwortlichen offensichtlich noch nicht auf dem Schirm haben: wir Freie Demokraten allerdings schon.

Christiane Wayand (35/Grüne) Idar-Oberstein

Eine gesetzlich verankerte Personalbesetzung mit entsprechender Finanzierung für die Krankenhäuser würde den akuten Pflegenotstand in vielen Krankenhäusern schon spürbar verbessern.

Dies kann aber nur der erste Schritt sein. Es braucht noch weit mehr als eine gegenfinanzierte Personalbemessung.

Die Politik hat die Grundlage dafür zu schaffen, dass keine wirtschaftlichen Anreize für medizinische Leistungen entstehen, die nicht nötig, aber wirtschaftlich attraktiv sind, wie das derzeit im DRG-System der Fall ist.

Die Verlierer dieses systembedingten, klinikinternen Verteilungskampfes sind die nichtärztlichen Mitarbeiter, die Pflegenden und somit die Patienten.

Das Gesundheitswesen als Reparaturbetrieb am Ende einer krankmachenden Politik-Kette ist nicht die Lösung. Daher muss die Umwelt-, Sozial-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik nachhaltige und gesunde Rahmenbedingungen schaffen, die mehr Wohlergehen bringen.

Manuela Holz (52/Linke) aus Idar-Oberstein

Ich trete für eine Gesundheitsversorgung ein, die hohe Qualität und Menschlichkeit miteinander verbindet.

Krankenhäuser sind von der Ökonomisierung in besonderem Maße betroffen.

Zugleich wurde ein massiver Stellenabbau betrieben. Die fortschreitende Privatisierung von Krankenhäusern verschärft den Wettbewerb und verringert die demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten. Gerade diese Ökonomisierung führt geradewegs in den Personalnotstand.

Als Sofortmaßnahmen sind erforderlich: die Einführung einer gesetzlichen Personalbemessung mit verbindlichem, bundesweit einheitlichem Personalschlüssel, die Einführung einer Finanzierung für eine allgemeine, verbindliche, solidarische Bürgerversicherung, die Abschaffung der sogenannten „Fallpauschalen“ und die Rückkehr zu einer Leistung des Sozialstaates.

Weitere Privatisierungen müssen verhindert und privatisierte Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen in nicht profitorientierte Trägerschaften überführt werden.

Nicole Höchst (47/AfD) aus Speyer

Zum einen gilt es, dem beschriebenen Pflegenotstand entgegenzuwirken. Eine Hauptursache ist, dass die Personalkosten im „DRG-Fallpauschalensystem“ unzulänglich abgebildet sind.

In den Krankenentgelten sind die tariflichen Entgeltsteigerungen deshalb nur teilweise enthalten. Aufgrund dieser Deckungslücke sehen sich viele Krankenhäuser gezwungen, Personalstellen, insbesondere bei der Pflege, einzusparen. Das führt unweigerlich zu einer unzumutbaren Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und groben Nachteilen für die Patienten.

Zum anderen muss betont werden, dass die Ursachen für den fehlenden Berufsnachwuchs schwerwiegend sind: Da spielen der hohe Leistungsdruck und die zuweilen unangemessene Entlohnung eine Rolle.

Nun müssen wir uns als Gesellschaft an unseren Taten messen lassen: Sprechen wir ein Bekenntnis der Wertschätzung für die Pflegeberufe aus und gestalten wir Arbeitsbedingungen und Entlohnung entsprechend!

Leander Hahn (21/ÖDP) aus Idar-Oberstein

Die Pflege muss gestärkt werden, doch allein mit dem Anheben des Pflegeschlüssels ist es nicht getan.

Denn selbst wenn die Heime verpflichtet wären, mehr (ausgebildetes) Pflegepersonal in einer Schicht einzusetzen, fehlt es immer noch an Bewerbern. Es ist wichtig, dass die Pflegeausbildungen wieder interessant werden.

Es ist demotivierend, wenn man schon vor Ausbildungsbeginn weiß, dass in der Altenpflege zehn Jahre nach der Ausbildung nur noch rund 37 Prozent ihren Beruf noch ausüben. Es ist ein Teufelskreis: Weniger Personal führt zu schlechteren Arbeitsbedingungen, dies führt wiederum dazu, dass das Ansehen des Berufs sinkt, es weniger Auszubildende gibt und somit auch weniger Pflegepersonal.

Es muss etwas dafür getan werden, die Pflege als das darzustellen, was sie ist. Wir brauchen mehr Gelder, um für die Ausbildungen zu werben, mehr Gelder für Personal, einen höheren Pflegeschlüssel, und es muss viel mehr in Sachen betrieblicher Gesundheitsfürsorge getan werden.

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