Dreikönigstreffen am Vierherrenstein bei Rotenhain: Die tugendhafte Anna will nicht ins Bullesje
Dann war es so weit und der Moment gekommen, auf den sich das Volk ein Jahr lang freut und sich dafür in reichlicher Zahl auf den Weg durch den Wald machte: Ans Tageslicht würde kommen, wer in den vergangenen zwölf Monaten sich nicht an Recht und Ordnung gehalten hatte. Albert Schaad waltete seines Amtes und lud kurzerhand dazu ein, sich in die Zeit vor 110 Jahren zurückzuversetzen.
Es war ein Jammer, miterleben zu müssen, was der Familie Schwertel eines Abends widerfährt: Ihre fleißige, redliche, unschuldige Tochter Anna, Tochter des Karl Schwertel zu Lochum, wird beschuldigt, am 6. Mai 1910 vormittags ¼ vor 12 Uhr unberechtigter Weise über die Wiese Haineichen und Dickelsberg gegangen zu sein. Und diese darf nach dem 1. Mai nicht mehr betreten werden, denn die Bauern brauchen das Gras für ihr Vieh, auch das Gras von den sonst begehbaren Trampelpfaden. So ist das Gesetz seit 1880. Entweder Anna zahlt zur Strafe 1 Mark oder sie muss ins Gefängnis. Anna kreischt und jammert: Ich muss ins Bullesje! Der Schreck raubt ihr die Stimme, sodass ihr Bruder Johann für sie beim Vogt ein gutes Wort einlegen muss. Bürgermeister Schneider weist schließlich auf das Gesetz hin, in dem steht: „Mit Geldstrafen bis zu 10 Mark oder mit Haft bis zu drei Tagen wird bestraft, wer unbefugt über Grundstücke geht“. Mit 1 Mark sei Anna da sehr gut weggekommen, meint der Vogt und macht kurzen Prozess: „Das Gesetz muss eingehalten werden, und ich kann nichts anderes urteilen, als dass du diese Mark an die Ortspolizeibehörde zahlen musst.“ Der Fall ist erledigt, aber es gibt noch weitere Verfehlungen. Es geht um einen gewissen Joseph Mies mit seinem Sohn Felix. Sie sind aus Höhn und haben am 15. Juli 1910 gegen die Gewerbeverordnung verstoßen: Sie haben ohne Erlaubnis auf öffentlichen Straßen in Todtenberg Musik gemacht. Nun warten sie in einer Hütte auf ihren Prozess und lassen sich lange bitten. Statt untertänigst vor dem Vogt zu erscheinen, spielen sie in der Hütte ein lustig Lied. Es nützt nichts, sie müssen raus! Unter den Klängen eines Trauermarsches schleichen sie nun, ja, nicht zum Schafott, aber ihrer Strafe entgegen. Und die fällt milde aus und findet auch beim gaffenden Fußvolk Anklang: Da die armen Schlucker die laut Gemeindeordnung fälligen 1 Mark und 20 Pfennige nicht aufbringen können, sollen sie vor Ort noch etwas Musik machen. „Dann darfst Du bei den Leuten sammeln, und was Du bekommst, das gibst Du in die Gemeindekasse. Wie ich die Leute kenne, freuen die sich über schöne Musik und spenden Dir auch was. Einverstanden?“, fragt der Vogt den Vater, der freudig einwilligt und zum Vergnügen aller anstimmt: „Westerwald, wie bist du schön.“
Mit Beifall honorierten die Zuschauer diese muntere Gerichtsbarkeit. Im Namen des Rotenhainer Ortsvereins Historica dankte Vorsitzender Peter Benner zum einen Rosel Kanz für die wunderbaren Gewänder und zum anderen Albert Schaad für dessen Mühe. Mit diesem Stück, das die Akteure mit viel Überzeugungskraft und Lust spielten, hatte er wieder einmal ins Schwarze getroffen – und ganz nebenbei ein feines Stück Lokalgeschichte vermittelt.
Weitere Fotos vom Treffen stehen im Internet unter www.rhein-zeitung.de/westerwald