Ailertchen

Bio gab es schon früher: „Kleine Bauern“ prägten Landwirtschaft in der Region

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In seinem Familienalbum hat Helmut Becher ein Foto aufbewahrt, das den Viehaustrieb auf die Ailertcher Viehweide zeigt. Auch Bechers hatte Kühe im Stall stehen. Solche Aufnahmen wecken bei den Westerwäldern sicher viele Erinnerungen, zeigen sie doch ein typisches Bild jener Zeit. Foto: Helmut Becher

Helmut Becher ist ein Dorfkind. Aufgewachsen in Ailertchen, erinnert er sich noch gut an das Leben, wie es in seiner Kindheit im Westerwald typisch war. Er hat den Wandel der Region miterlebt, ja selbst mitgestaltet – und ist ein Wäller Jung geblieben, der die Entwicklung im Ort genau wahrnimmt und hinterfragt.

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So sagt er: „Früher war keineswegs alles besser, bestenfalls war vieles anders. Aber der Umgang mit der Natur, den Tieren und Lebensmitteln entsprach höchster Lebensqualität“.

Die Familie Becher lebte in den 1960er-/70er-Jahren mit zehn Personen auf 120 Quadratmetern. Das waren neben den Eltern Gertrud und Josef die Großeltern Elise und Christian sowie die Kinder Ursula, Paul, Christel, Petra, Steffi und Helmut. Im Stall standen ein Pferd, Kühe, Kälber, Schweine, dort lebten auch Katzen – und im Hühnerhäuschen Hühner.

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So wie Josef Becher, der Vater von Helmut Becher, wurden Ende der 1960er-Jahre viele Ailertcher mit dem Bus morgens zur Arbeit bei der Firma Muhr & Bender nach Daaden gefahren. Das war ein Bus von Waldemar Schöndorf aus Schönberg. Viele der Männer hatten neben dieser Arbeit auch noch eine Landwirtschaft im Nebenerwerb.
Foto: Helmut Becher

„Unser Vater war gelernter Bergmann und später Vorarbeiter bei der Firma Muhr und Bender in Daaden. Vor dem Arbeitsbeginn in der Maschinenfabrik mistete er den Stall aus und versorgte die Tiere, das heißt, er begann seinen Arbeitsalltag um 4 Uhr“, erzählt Helmut Becher. Danach gab es Stullen zum Frühstück, die von der Mutter häppchenfertig hergerichtet wurden. Während und bevor die Kinder schulfertig gemacht wurden, war auch sie im Stall und melkte die Tiere.

Für die Ernährung war gesorgt: Es gab Eier von den eigenen Hühnern, Milch von den Kühen, Marmelade von den Gartenfrüchten, Erbsen, Möhren, selbst geschlagene Butter, eigenes Sauerkraut und natürlich Wurst und Fleisch von den eigenen Tieren. „Alles war von höchster Qualität, mehr Bio gab es nicht, und ich behaupte, ist auch fast nicht zu erreichen“, erinnert sich der 66-Jährige.

Feldwirtschaft nach Justus Liebig

Die Feldwirtschaft wurde nach Justus Liebig betrieben: Angebaut wurde ein Jahr Kartoffeln, ein Jahr Frucht und ein Jahr Rüben, danach lag das Feld ein Jahr brach. Der Boden konnte sich so immer wieder erholen und gute Ernten auf den kargen Böden bringen. Helmut Becher schildert weiter: „Wir hatten Felder, die im bunten Reigen mit den Flächen der anderen Bauern eine lebendige Natur zeigten. Es gab viele Tiere, Mäuse, Maulwürfe, Käfer und Würmer, der Habicht stand am Himmel.“

Helmut Becher
Helmut Becher erinnert sich noch genau, wie das Leben in seiner Kindheit auf dem Land war. Aufgewachsen in Ailertchen, erlebte er, wie sich die Landwirtschaft rapide wandelte.
Foto: Röder-Moldenhauer

Am Wegesrand und in den Wiesen leuchteten bunte Blumen, eine wunderschöne Natur. Auf einem Wiesenstück war es nass, dort wuchs der Arnika. Die Blumen wurden gesammelt, und die Mutter setzte die Blüten mit Schnaps auf und machte davon Arnikaschnaps. Damit wurden Schmerzen und Krampfadern gelindert. Gedüngt wurde mit Jauche, mit Mist und Stroh. Das Rindvieh war im Sommer auf der Weide und nur nachts und zum Melken im Stall, es wurde aber auch auf der Weide gemolken. Im Herbst gab es Kartoffeln, ein Teil konnte die Familie Becher davon verkaufen, und eine reiche Fülle an Äpfeln, Birnen, Pflaumen und Strauchobst. Da wurden sich die Bäuche vollgeschlagen und natürlich für das ganze Jahr eingeweckt.

Mehr Bio gab es nicht.“

Helmut Becher erinnert sich

Die Felder wurden gehackt und mit den Händen unkrautfrei gehalten. Die Tiere hatten allesamt Platz, auch die Schweine konnten sich im mit Stroh eingestreuten Saustall frei bewegen. In den 1960er-/1970er-Jahren siedelten die größeren Bauern in die Peripherie der Gemeinden und bauten große Bauernhöfe. Dort lebten mehr Tiere auf beengtem Raum, und die Spaltböden hielten Einzug, erinnert sich der Westerwälder. Es wurde kein Stroh mehr eingestreut, und Jauche und Mist wurden mit Wasser in das Güllebecken eingeleitet. Ein ganz neuer und die Natur veränderter Dung entstand.

Aussiedlerhöfe wurden größer

Immer mehr kleine Bauern verschwanden. Auch Bechers teilten dieses Schicksal. Am 14. Februar 1983 verstarb der Vater im Alter von 53 Jahren an Lungenkrebs. „Als er merkte, dass er die Arbeit nicht mehr schaffte, gab er seine geliebte Landwirtschaft, die sehr viel Kraft erforderte, auf“, berichtet Helmut Becher. Die Entwicklung ging weiter, die Aussiedlerhöfe wurden immer größer, die Tiere mehr, die Platzverhältnisse seien dadurch zum Teil enger geworden, hat Helmut Becher beobachtet.

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Die Eltern, Gertrud und Josef Becher, hatten einen kleinen Nebenerwerbshof, der ihnen viel Arbeit bescherte, aber auch die Grundlage zum Leben. Umso mehr wurden die freien Stunden genossen.
Foto: Helmut Becher

Er fährt fort: „Die Felder wurden gleichgemacht, Grenzgräben beigefüllt und schnell wachsende Gräser gesät. Bäume, die auf den einzelnen Parzellen standen, wurden gefällt. Mit der Monokultur verschwanden viele Tiere, die bunte Vogelschar und der Habicht am Himmel. Blumen auf den Wiesen und auf den Wegrändern gehörten der Vergangenheit an.“ Um immer mehr Erträge zu erhalten, wurde mit Pestiziden und Düngermittel gearbeitet.

„In der Landwirtschaft wurde mehrfach mit staatlicher Unterstützung und Fördermitteln verkehrt abgebogen“, bedauert Helmut Becher. Er denkt, dass zu viel der Masse und nicht der Qualität geopfert wurde. Er wünscht sich ein Umdenken und einen Neubeginn hin zu einer natürlichen Qualität, die er aus seinen Kindheitstagen her noch kennt und deren Nachgeschmack er noch auf der Zunge zu spüren meint. Und das gerade auch jetzt, wo es in dem bekannten Volkslied wieder heißt: „Im Märzen der Bauer ...“.