Bad Kreuznach. Spitzenpolitiker, die sich unbeschwert auf Volksfesten bewegen und ebenso frei von der Leber weg zuprosten? Heute eher schwer vorstellbar. Smartphones lauern überall, die Terrorgefahr ist allgegenwärtig. 1965 sah das alles noch etwas anders aus. Auf Wahlkampftour befindlich, damals wollte er Bundeskanzler werden, stattete SPD-Politiker Willy Brandt, der zu dieser Zeit regierender Bürgermeister Berlins war, dem Bad Kreuznacher Jahrmarkt einen Besuch ab.
Brandt, der aufstrebende, trotz seiner 52 Jahre jugendlich wirkende kommende Mann der Sozialdemokraten, bewegte sich frei auf der Pfingstwiese, in einer Delegation mit SPD-Lokalpolitikern. Ebenfalls mit dabei: die amtierende Naheweinkönigin Waltraud Beuscher aus Roxheim. Gemeinsam zog man von Stand zu Stand.
Auch beim Bad Kreuznacher Gastronomen Ludwig Hasselwander machte der Tross Halt und genehmigte sich einen Schluck. „Das war eine sehr entspannte Runde, Willy Brandt war total volksnah und kannte kaum Berührungsängste. Heute wäre das vermutlich alles viel steifer. Der Nahewein scheint ihm geschmeckt zu haben“, erinnert sich Zeitzeuge Hans-Günther Kohlmann.
Für Willy Brandt endete dieser Wahlkampfbesuch gut, nicht aber der Wahlkampf. Die Christdemokraten holten im Oktober 1965 zwar die meisten Stimmen, agierten aber gemeinsam mit der CSU in einer Minderheitsregierung.
Brandts Zeit sollte aber noch kommen. Nach Kanzler Erhards Rücktritt, standen die Zeichen 1969 auf Wechsel: „Willy wählen“ war damals das Motto. Im Oktober wählte der Bundestag Willy Brandt zum ersten Bundeskanzler, den die SPD stellte. Brandt stand für eine andere Art der Politik, „wollte mehr Demokratie wagen“ und veränderte die Ostpolitik der BRD. Sein Kniefall am Mahnmal des Ghetto-Aufstandes von 1943 in Warschau bleibt unvergessen. Für seine Ostpolitik erhielt der gebürtige Lübecker 1971 den Friedensnobelpreis. 1974 trat Brand im Zuge der Guillaume-Affäre zurück. Auf ihn folgte Helmut Schmidt. Brandt verstarb am 8. Oktober 1992.
Von unserem Reporter Marian Ristow