Wir sitzen beim Thema Corona alle in einem Boot. Unwillkürlich fällt mir dabei die Titanic ein. Zugegeben, das Bild ist schief, weil ja anders als bei der historischen Schiffskatastrophe heutzutage für die Allermeisten die Chance des Entrinnens und Überlebens besteht. Damals waren die Rettungsboote das Fünkchen Hoffnung. Heute sind es im übertragenen Sinn die Impfzentren und Arztpraxen. Doch damals wie heute stellt sich unausweichlich eine quälende Frage.
Saßen und sitzen die richtigen Menschen auf der Ruderbank oder im Wartezimmer? Wie wird priorisiert – und was bedeutet das in der Praxis wirklich? „Frauen und Kinder zuerst“, so lautete an Bord die eiserne Regel. Doch nicht immer waren die Schwachen die ersten mit Rettungsweste und Platz im Boot.
Und heute? Wie soll man begreifen, dass im Kreis Bad Kreuznach noch immer 5000 Menschen der Priorisierungsgruppen 1 und 2 gar nicht geimpft sind, während in Praxen ganz andere Alters- und Patientengruppen durchaus schon mindestens den ersten Piks bekommen haben? Und wie egoistisch oder unbedarft muss man sein, bei wegen mehrfacher Anmeldung plötzlich doppelt vorhandenem Impftermin einen davon einfach ohne Stornierung verfallen zu lassen? Und wie ticken die Menschen, die nichts Eiligeres zu tun haben, als so schnell wie möglich in Urlaub fahren zu wollen? Und wie wird in einer irgendwann weitgehend durchgeimpften Gesellschaft der Umgang mit denen, die sich dem Piks partout verweigern? Irgendwas ist da in den vergangenen Monaten, fast Jahren, mit unseren menschlichen und moralischen Maßstäben passiert. Und keiner kann heute wissen und sicher sein, ob es am Ende möglich sein wird, irgendwann in Richtung Normalität „zurückzurudern“.
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