Bad Bertrich

„Na, Kaspar, warste noch en Christbaum klaue?“: Eine Weihnachtsgeschichte aus Bad Bertrich

Von Rolf Goergen
Winterliches Leipzig
Eine schneebedeckte Kugel an einem Weihnachtsbaum. Foto: Sebastian Willnow/picture alliance/dpa

Immer wenn es weihnachtet, sitzt Familie Goergen zusammen und erzählt sich eine Geschichte. Doch es ist nicht nur irgendeine Geschichte: Von Generation zu Generation werde sie weitergetragen, wie Horst Heinrich Georgen erzählt. Seinen Ursprung hat sie bei seinem Urgroßvater Kaspar Walscheid aus Bad Bertrich. Dessen Enkel und Horst Heinrich Goergens Vater, Rolf Goergen, hat sie zuletzt aufgeschrieben. Seitdem wird sie immer wieder herausgeholt und sich gegenseitig vorgelesen.

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In der Mitte des vorigen Jahrhunderts standen meist Fichten in deutschen Weihnachtsstuben. Mein Urgroßvater, Kaspar Walscheid aus Bad Bertrich, holte sich eine kleine Kiefer aus dem Wald. Allerdings nicht ganz legal.

Eine geschlossene Schneedecke bedeckte die Höhen und Täler der südlichen Vulkaneifel. Tief drückte die Schneelast den Nadelbäumen die Äste herab. Weihnachten stand vor der Tür. Der betagte Stellmacher (auch „Wäner“ oder „Wagner“ genannt), Kaspar Walscheid, ein überaus passionierter Natur- und Waldläufer, war mit seiner Axt unterwegs, um sich nach einem Weihnachtsbaum umzusehen. Nur mehr weinige Stunden bis zum Fest und noch kein Bäumchen hinterm Haus, es wurde also höchste Zeit.

Eigentlich wollte er keinen Baum mehr aufstellen. Für wen auch, sagte er sich. Am Heiligen Abend würde er wieder – wie all die Jahre zuvor – mit seiner Rosa allein neben dem gusseisernen Ofen sitzen. Ja, und die wohlige Wärme, die dieses gute Stück ausstrahlte, war das schönste Weihnachtsgeschenk. Bescheiden waren sie schon ihr Leben lang, die beiden Alten. Bescheiden und zufrieden.

Ein Baum für die Enkel

Dann besann der Kaspar sich jedoch der beiden Enkel. Die Kerle ärgerten ihn zwar häufig genug, stahlen ihm mit dreisten Tricks seine mühsam gesammelten Nüsse und Äpfel vom Speicher, steckten auch sonst voller übler Streiche und Teufeleien, dass es ihm oft die Zornesröte in die Wangen trieb. Aber Weihnachten waren selbst diese Wildlinge zahm wie Osterlämmer. Nun, der Entschluss, erneut in lieb gewordener Tradition einen Baum zu schmücken, war längst tief in seinem Inneren herangereift. Außerdem, so sinnierte er weiter, würde ihnen beiden Alten der Duft und das anheimelnde Fluidum der Weihnachtsstube sicherlich noch einmal so richtig guttun. Wer weiß, vielleicht war es das letzte Mal ...

Also: Am Weihnachtsfest sollte wieder ein festlich geschmücktes Bäumchen neben der Tür zur Schlafstube stehen. Aber es sollte ein Bäumchen der besonderen Art sein. Doch zunächst musste dieses Prachtexemplar erst einmal gesucht und heimgeholt werden. Und das war alles andere als einfach.

Eine Krönung der Schöpfung

Da der „Walscheds Kaspa“, wie man ihn in Bertrich und Umgebung nannte, auch sonst niemals die erstbeste Fichte abhackte, nahm er sich Zeit, viel Zeit. Diese Ausdauer sollte schließlich belohnt werden. Endlich, nach langem Suchen, Schauen, Abwägen, Messen und Begutachten, stand er neben einer besonders ebenmäßig gewachsenen Kiefer. Diese Baumart kommt in der Eifel nicht so häufig vor. Aber ein Bäumchen wie gemalt. Nicht zu hoch, nicht zu niedrig, nicht zu breit und nicht zu schmal. Eben ein Baum nach seinem besonderen Geschmack. Eine kleine „Krönung der Schöpfung“. Wohl extra für seine bescheidene Stube gewachsen. Dem Herrgott sei Dank! Ergriffen nahm er die Mütze vom kahlen Schädel und wischte sich den Schweiß ab.

Nachdem der Alte den Schnee von dem nach Nadeln und Harz duftenden Christbäumchen geschüttelt und gerüttelt hatte, klemmte er das Schmuckstück unter den linken Arm und trat mit sich und der Welt zufrieden den langen und beschwerlichen Heimweg an. Der fußknöchelhohe Schnee dämpfte die Schritte des schweren Schuhwerks. Im blattlosen, bizarren Geäst über dem Weg turnten ein paar Kohlmeisen. Wohlwollend schaute der Naturfreund ihnen eine Weile zu. Dann setzte er seinen Gang fort. Verärgert über die Störung krächzte ein bunter Eichelhäher seinen Unmut in die Stille des Waldes hinaus.

Kaspar Walscheid
Legte beim Weihnachtsbaum selbst die Axt an: Kaspar Walscheid.
Foto: Archiv Rolf Goergen

Einige Meter weiter, der Weg machte hier eine leichte Linkskehre, stand eine doppelt „getupfte“ Marderspur im ansonsten unberührten Schnee. Mit schneller werdendem Herzschlag inspizierte der Alte die faszinierende „Visitenkarte“ des nächtlichen Jägers. Die Frage, ob es sich um einen Edel- oder Hausmarder handeln würde, war nicht deutlich erkennbar, aber auch nicht so wichtig. Jedenfalls handelte es sich um einen Marder. Und das reichte schon, das Fallenstellerherz gehörig auf Touren zu bringen. Ob der geheimnisumwobene „Leisetreter“ nun einen weißen oder gelben Kehlfleck trug, war ihm schnurzegal. Mancher dieser geschmeidigen Burschen – übrigens beider „Fakultäten“ – landete in seinem Fangeisen und das prächtige Fell am Mantelkragen seiner getreuen Rosa.

Nach dem Spektakel des Waldpolizisten „Markwart“ herrschte wieder Ruhe „im Dom“. Eine geradezu feierliche Stimmung lag über der Eifellandschaft. Auch die Herzen der Menschen waren davon ergriffen. Weihnachten, oh ja: Weihnachten, das Fest der Feste, das Fest der Familie und der Liebe...

Als die ersten Häuser von Bad Betrich durch den Wald schimmerten...

Bald hatte es der alte Kaspar geschafft. Die ersten Häuser von Bertrich schimmerten schon durch die eisstarren und dick verschneiten Niederwaldeichen. Und mitten im Ort dort tief unten stand sein kleines Häuschen. Ja, und nur noch wenige Stunden, dann würde das Bäumchen unter seinem Arm im warmen Lichterglanz der Wachskerzen erstrahlen. Ihm, dem alten Burschen, vom harten, arbeitsreichen Leben gezeichnet – zwei Weltkriege überlebt, Hunger und Elend überstanden –, wurde es warm ums Herz.

Doch dann, Schreck lass nach, drohte urplötzlich Ungemach. „Verflixt un’ Dunnerkeil“, entfuhr es dem Waldläufer. Und noch einmal: „Verflixt un’ Dunnerekeil nochemol, lo kimmt dä Wünschmann!“ Tatsächlich. Gemächlichen Schrittes kam Revierförster Wünschmann des Weges, zu Fuß natürlich, wie es sich für einen zünftigen Forstmann damals gehörte. Bei jedem Schritt wippte der mächtige Saubart an seinem grünen Försterhut.

Der weit und breit bekannte Beamte hatte noch schnell ein paar Besorgungen gemacht und strebte nun in Feiertagsstimmung dem Forsthaus in Kennfus zu, wo seine hübsche Frau und vier stramme Söhne warteten. Nach dem ersten Schreck setzte der Kaspar seinen Weg unbeirrt fort. Was um Himmelsherrgottswillen hätte er auch sonst tun sollen? Der Pfad war so schmal, dass beide – Förster und Weihnachtsbaumdieb – regelrecht auf Tuchfühlung aneinander vorbei mussten.

Na, Kaspar, warste noch en Christbaum klaue?

Revierförster Wünschmann

Eine heikle Situation, fürwahr. Kurze Zeit später war es soweit. Als Erster fing der Ordnungshüter des Waldes an zu sprechen. Seine sonst eher markige Stimme, eine Stimme, die es gewohnt war, Befehle zu erteilen, klang besonnen, fast warm: „Na, Kaspar, warste noch en Christbaum klaue?“ Darauf folgte die kurze, aber wahrheitsgetreue Antwort: „Joo.“ Dann wieder der Förster: „Do haste recht, die geklaute sein die Schönste. Frohe Weihnachten!“ „Frohe Weihnachten“, sagte daraufhin der Walscheids Kaspar befreit aufatmend, und beide stapften durch den tief verschneiten Weihnachtswald heimwärts...