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Walhausen

Krebskranke Irina Held: Ein letztes Dankeschön

Von Birgit Pielen
Dieses Foto entstand bei einem Gespräch Ende März. Zu dem Zeitpunkt war Irina Held schon sehr geschwächt von den neuen Metastasen.
Dieses Foto entstand bei einem Gespräch Ende März. Zu dem Zeitpunkt war Irina Held schon sehr geschwächt von den neuen Metastasen. Foto: Jens Weber

„Ihr Lieben, meine Therapie hat nicht angeschlagen. Ich tendiere dazu, nichts mehr zu machen, außer meine Beerdigung zu planen.“ Irina Held war, als sie das auf dem sozialen Netzwerk Instagram öffentlich machte, noch in ihrem Zuhause in Walhausen (Kreis Cochem-Zell), umsorgt von ihrem Mann, umgeben von ihren drei kleinen Kindern – und überwältigt von einer Welle der Hilfsbereitschaft, zu der auch viele unserer Leserinnen und Leser beigetragen haben.

Lesezeit: 4 Minuten
Bei einer Hilfsaktion spendeten Tausende Menschen innerhalb von nur fünf Tagen fast 80 000 Euro für die 34-jährige krebskranke Frau, um den Kostendruck in der langen Leidensphase zu mindern. „Diese Welle an Hilfsbereitschaft und Liebe war einfach unglaublich“, sagte Irina gerührt bei einem der letzten Gespräche mit unserer Zeitung. „Ich weiß nicht, ...
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Heldin Irina: Der Kampf einer jungen Frau aus dem Hunsrück gegen den Krebs

"Mama, zieh die Haare wieder an!“ Es ist dieser Satz, der Irina Held mitten ins Herz trifft. Es ist der Tag, an dem sie nach zehrenden Chemotherapien wieder nach Hause in den Hunsrück kommt. Nach Hause zu ihren drei kleinen Kindern. Sie sehen ihre Mama zum ersten Mal ohne Haare. Doch es ist auch der Zeitpunkt, an dem die 34-Jährige glaubt, den Brustkrebs überstanden zu haben. Sie lebt! Die Prognose der Ärzte ist gut. Doch die Erleichterung währt nicht lange.

Schon nach kurzer Zeit tauchen neue Metastasen auf. Irina Held kämpft mehr denn je um ihr Leben – getragen von einer Welle der Hilfsbereitschaft. Innerhalb von fünf Tagen haben mehr als 2500 Menschen fast 80.000 Euro gespendet, damit sie alternative Therapien finanzieren kann. Für viele ist die junge Frau schon jetzt eine Heldin. Denn Irina hat bereits eine Magersucht und eine Depression überwunden. Wie viel Leid erträgt ein Mensch überhaupt?

Das Aussiedlerkind

Im Mai 1992 siedelt Irina, gebürtige Zimmermann, mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder von Kasachstan nach Deutschland um. Es ist die Phase, in der Deutschstämmige aus einem Ostblockstaat in die Bundesrepublik einreisen dürfen, um dort ansässig zu werden. Heimisch werden sie schließlich in Blankenrath (Kreis Cochem-Zell), wo ein Freund des Vaters lebt. „Mein Vater war ein Macher“, sagt Irina. „Für ihn war es schwer, dass wir nur mit zwei Koffern nach Deutschland kamen, wo er doch in Kasachstan als Elektriker eine eigene Firma mit Angestellten hatte.“ Doch der Vater wollte unbedingt nach Deutschland, um sich ein neues, ein besseres Leben aufzubauen. Irinas Erinnerungen an Kasachstan sind vor allem Erinnerungen an Mangel. „Wir hatten zwar Geld, konnten uns davon aber nichts kaufen.“ Verwandte aus Deutschland schickten regelmäßig ein Posylka, ein Geschenkpaket. Irina erinnert sich vor allem an die Schokolade. Die bunten Verpackungen aus Zellophan sammelte sie, um immer wieder daran zu riechen – ein verheißungsvoller Geruch.

Das Mobbing

Irina integriert sich schnell in ihrer neuen Heimat, besucht die Grundschule in Blankenrath und erlebt eine unbeschwerte Zeit. Doch alles wird anders, als sie 1996 zum Gymnasium nach Traben-Trarbach wechselt. Schon die 40 Minuten lange Busfahrt vom Hunsrück an die Mosel wird zur Tortur. Sie wird wegen ihres Vornamens und wegen ihres russischen Akzents gehänselt. Mal wird sie mit Sachen beworfen, mal wird ihre Jacke gestohlen. Im Sportunterricht wird sie wegen ihrer Brüste belächelt. „Da hüpft ja was!“ Hinter vorgehaltener Hand wird getuschelt, Aussiedler würden Einheimischen die Arbeit wegnehmen. Die niederen Instinkte einiger Mitschülerinnen machen dem Mädchen das Leben zur Hölle. „Zum ersten Mal in meinem Leben war ich eine Außenseiterin“, sagt Irina. Ihre Schulnoten werden schlechter, sie schläft kaum noch, fürchtet sich vor der Schule. Ihre Eltern arrangieren ein Gespräch mit dem Schulrektor, der die Anführerin des Mobbings und deren Eltern ins Gebet nimmt.

Die Essstörung

Integration bedeutet für Irina Anpassung – und Ignorieren ihrer Herkunft. „Ich hatte nur noch deutsche Freunde“, sagt sie. „Wenn sie zu Besuch bei uns zu Hause waren, habe ich meinen Eltern verboten, Russisch zu sprechen. Meine Herkunft war mir peinlich. Ich wollte so sein wie alle anderen.“ Ihren russischen Akzent, vor allem das rollende R, hat sie sich abtrainiert – und das Kapitel Kasachstan damit endgültig beendet. Sie wird Klassensprecherin und engagiert sich in der Schülervertretung. In der siebten Klasse startet ihre Mädchenclique einen Wettbewerb: Wer nimmt am schnellsten ab? Irina, ohnehin schon schlank, isst manchmal nur ein Käsebrot am Tag – ohne Butter. Ihr Vater bemerkt, dass seine Tochter abmagert, und zwingt sie zum Essen. Damit beginnt ein fataler Kreislauf. Irgendwann wiegt Irina nur noch 39 Kilo. Doch psychologische Hilfe lehnt sie ab. Sie will es allein schaffen. In der Abizeitung wird sie später beschrieben als perfekt gestylte junge Frau, die jeden Tag zwei Liter Wasser und eine Kanne Tee trinkt.

Die Depression

Nach dem Abitur studiert Irina in Worms Tourismusmanagement. Sie will weg von zu Hause und ist überzeugt, dass eine andere Umgebung auch zu einer inneren Wandlung führt. Sie reist viel, arbeitet 2007 für die Messe Frankfurt ein halbes Jahr in Dubai, später vier Wochen in Brasilien für ein Nachhaltigkeitsprojekt. Die Welt scheint ihr offenzustehen, doch das Schicksal hat andere Pläne. 2009 erkrankt ihr Vater, erst 46 Jahre alt, an Magenkrebs. Er kämpft lange um sein Leben – vergebens. Irina zieht wieder zu Hause ein, um ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten. „Er war mein Anker“, sagt sie. Nach seinem Tod im April 2010 trauert sie mit ihrer Mutter viele Monate. Beide wissen, dass das Leben weitergehen muss – aber wie? Irina nimmt schließlich einen Job bei einer Eventagentur in Sinsheim (Baden-Württemberg) an und reist um die Welt. Doch sie ist nicht stabil, weder psychisch noch physisch. Schlaflosigkeit und Mangelernährung rauben ihre letzten Kräfte. Nach einigen Monaten schafft sie es nicht mehr, aus dem Bett aufzustehen. Sie steckt in einer tiefen Depression – und kehrt 2011 hilflos in den Hunsrück zurück.

Der Lichtblick

Irgendwann beginnt Irina, sich ihre Träume zu visualisieren: Was will sie vom Leben? „Das hat mir geholfen, nicht durchzudrehen“, sagt sie heute. Ein Ehemann und Kinder stehen ganz weit oben auf ihrer Wunschliste. Gesundheit und Lebensfreude natürlich auch. Endlich nimmt sie ärztliche Hilfe an und lässt sich in einer psychiatrischen Tagesklinik behandeln – vier Wochen lang. Danach nimmt sie auf Anraten ihres Hausarztes Antidepressiva und gewinnt die Kraft, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Sie bewirbt sich beim Reisebüro Bohr im Hunsrück und kümmert sich um Bustourismus. „Das hat mich gerettet“, sagt sie. Sie hat soziale Kontakte, Anerkennung im Beruf, Freude am Leben. Alles wird leichter. „Das Leben ist schön, wenn man sich dafür entscheidet.“ Und es nimmt eine verheißungsvolle Wendung, als Irina 2013 eine Schulfreundin wiedersieht. Carina Preuß leitet das Ayurveda Parkschlösschen in Traben-Trarbach, beide fahren zu einer Yogamesse nach München. „Das hat mein Leben nachhaltig verändert“, sagt Irina. Drei Monate lang ernährt sie sich konsequent ayurvedisch, nimmt an Gewicht zu, und sogar ihre Menstruation kommt nach zwei Jahren wieder. Und nicht nur das: Sie lernt ihren Seelenverwandten kennen, ihren späteren Ehemann Eugen, der wie sie aus dem Ostblock stammt und nun im Hunsrück ein Bauunternehmen hat. Irina übernimmt 2014 einen Job im Parkschlösschen – und wird kurze Zeit später schwanger.

Die Diagnose

Irinas Traum vom Familienglück geht in Erfüllung – endlich. Sie heiratet, bringt drei Kinder zur Welt und schließt während der Schwangerschaften Frieden mit ihrem Körper. Fasziniert von der ayurvedischen Lehre, der Lehre des Lebens, macht sie verschiedene Ausbildungen und plant ihre Selbstständigkeit, unter anderem als Ernährungsberaterin. Auf ihrem Insta-gram-Kanal ayur_rina veröffentlicht sie Rezepte und Fotos aus der ayurvedischen Küche. Doch Anfang 2020 kommt die nächste Hiobsbotschaft. Weil sie beim Stillen Schmerzen in der Brust hat, lässt sie sich untersuchen. Mehrmals. Die Ärzte vertrösten sie, erklären die Schmerzen mit einer Brustentzündung und verschreiben Antibiotika. Erst Monate später folgt die niederschmetternde Diagnose: Brustkrebs. Auf Verzweiflung und Todesangst folgen 16 Zyklen Chemotherapie, eine Brustamputation und 28 Bestrahlungen. Irina hat sich noch nicht annähernd von diesen monatelangen Strapazen erholt, als ihr Onkologe nach einer Computertomografie Anfang dieses Jahres mit Tränen in den Augen sagt: „Ich sehe hier noch ein bisschen mehr.“ Der Krebs ist zurück, diesmal in aggressiver Form von Knochenmetastasen. Aus ärztlicher Sicht ist sie unheilbar krank. „Da war für mich klar: Es muss einen anderen Weg geben“, sagt Irina. „Die Chemotherapie hat zwar mein Leben gerettet, mich aber nicht geheilt.“ Sie entscheidet sich nun dagegen. Die große Frage aber ist: Was hilft jetzt?

Die Hoffnung

Auf ihrem Instagram-Kanal geht Irina offen mit der Diagnose um. „Ich will die Menschen nicht belügen“, sagt sie. Für sie selbst sei es eine Art Therapie, ihre Gefühle und Gedanken zu teilen. Von ihren 3500 Abonnenten erhält sie viel Mitgefühl und Zuspruch. Irina zeige, was wichtig und wertvoll im Leben sei, schreiben sie. „Das trägt mich und gibt mir Kraft.“ Über das soziale Netzwerk lernt sie auch die Schauspielerin Mimi Fiedler („Tatort“, „Nachtschwestern“) kennen, die jetzt eine Spendenaktion für Irina ins Leben gerufen hat. Innerhalb von nur fünf Tagen kommen sagenhafte 77.787,09 Euro zusammen, die Irina jetzt für alternative Heilmethoden verwenden kann. „Von diesem Geld möchte ich mir ein Wunder kaufen.“ Aktuell macht sie eine Immuntherapie in Fulda, im Gespräch ist auch eine Tumorimpfung im Immunonkologischen Zentrum Köln. Irina will kämpfen: „Ich sterbe irgendwann, aber nicht heute und nicht morgen. Ich habe das Gefühl, ich habe noch eine Aufgabe hier.“ Ihre Kinder haben im Frühjahr Geburtstag, im Juli heiratet ihr Bruder, im August wird ihre Tochter eingeschult, sie selbst wird dann 35 Jahre alt. „Im Dezember 2021 möchte ich dankbar auf das Jahr zurückblicken.“

Doch jeder Tag ist jetzt eine Herausforderung. Ihr ganzer Körper schmerzt. Durch Rippenfellmetastasen füllen sich die Lungen mit Wasser, sie leidet unter Atemnot, kann nur mit Mühe gehen. „Ich kann meinen Kindern nicht mehr die Schuhe anziehen, vor fünf Wochen bin ich noch gejoggt“, sagt Irina. Doch resignieren? Nein, das ist keine Option. Ihre Botschaft an alle, die sie unterstützen, lautet: „Glaubt an euch und eure innere Kraft, und gebt niemals auf.“ So wie Irina, die Heldin. Birgit Pielen

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