Siegen

Uni-Forscher sind an weltweitem Projekt beteiligt: Direkter Draht von Siegen in die argentinische Pampa

Vier große Stationen auf dem Gelände des Pierre-Auger-Observatoriums können Fluoreszenzlicht einfangen, das entsteht, wenn kosmische Teilchen auf die Atmosphäre treffen.  Foto: Steven Saffi/ University of Adelaide, Pierre Auger Collaboration
Vier große Stationen auf dem Gelände des Pierre-Auger-Observatoriums können Fluoreszenzlicht einfangen, das entsteht, wenn kosmische Teilchen auf die Atmosphäre treffen. Foto: Steven Saffi/ University of Adelaide, Pierre Auger Collaboration

Um 7 Uhr haben Eleonora Guido und Marcus Niechciol ihre Schicht beinahe geschafft. Draußen ist es noch dunkel, im Büro der beiden Physiker auf dem Emmy-Noether-Campus der Uni Siegen sorgen dagegen zehn Monitore für viel künstliches Licht. Auf den in drei Reihen übereinander angeordneten Bildschirmen sind Tabellen, Diagramme und Zahlen zu sehen. Sie verraten Guido und Niechciol, ob in der etwa 12.000 Kilometer entfernten argentinischen Pampa „alles okay“ ist.

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Dort befindet sich das weltweit größte Experiment zur Messung kosmischer Strahlung: das Pierre-Auger-Observatorium, an dem seit rund 20 Jahren auch Siegener Physiker beteiligt sind. Zusammen mit rund 450 Kollegen aus aller Welt spüren sie kosmische Teilchen auf, die permanent aus dem Weltall auf die Erdatmosphäre treffen. Ziel der gemeinsamen Forschung ist es herauszufinden, welche kosmischen Prozesse oder Objekte diese teils extrem energiereichen Teilchen erzeugen. Mehr als 100 Jahre nach der Entdeckung der kosmischen Strahlung ist das immer noch unklar – es handelt sich um eines der größten Rätsel der modernen Physik.

Dass das Siegener Team unter der Leitung von Professor Markus Cristinziani und Professor Markus Risse den argentinischen Detektor nun von Siegen aus überwachen und steuern kann, ist neu: „Bisher mussten wir jedes Mal extra nach Argentinien reisen, um entsprechende Schichten übernehmen zu können“, erklärt Niechciol. Um sicherzustellen, dass die Datenerfassung in der argentinischen Pampa möglichst reibungslos funktioniert, muss die hochsensible Messtechnik des Experiments permanent überwacht werden.

Dazu zählen neben 1600 mit Detektoren ausgestatteten Wassertanks insbesondere auch vier große Teleskopstationen auf dem Gelände des Observatoriums: Sie können das sogenannte Fluoreszenzlicht einfangen, das ausgesendet wird, wenn kosmische Teilchen auf die Erdatmosphäre treffen. Aus diesen Daten können die Wissenschaftler indirekt Rückschlüsse über Herkunft und Natur der kosmischen Teilchen ziehen. Im Siegener Büro von Guido und Niechciol ist jedem der vier Teleskopstationen ein eigener Bildschirm zugeordnet.

Schon viele Male ist Marcus Niechciol in die argentinische Pampa gereist, um Schichten am Pierre-Auger-Observatorium zu übernehmen. Nun kann er die Technik bequem von seinem Büro aus steuern.
Schon viele Male ist Marcus Niechciol in die argentinische Pampa gereist, um Schichten am Pierre-Auger-Observatorium zu übernehmen. Nun kann er die Technik bequem von seinem Büro aus steuern.
Foto: Tanja Hoffmann/Uni Siegen
„Seit Mitternacht überwachen wir die Teleskope und haben seitdem hoffentlich viele schöne Ereignisse der kosmischen Strahlung aufgezeichnet“, sagt Eleonora Guido, bevor sie sich an die Tastatur setzt: Der Mond über der argentinischen Pampa steht ungünstig – weil das helle Mondlicht die empfindlichen Messungen stören würde, muss die Physikerin die Teleskope nun per Fernsteuerung schließen.

„Neben dem Verlauf des Mondes beobachten wir auch das Wetter sehr genau“, erklärt Niechciol. „Gibt es in der Region Gewitter, starke Winde oder heftigen Regen, müssen wir reagieren und die Teleskope schnellstmöglich dicht machen, damit die empfindlichen Sensoren nicht beschädigt werden.“ Hat sich das Wetter wieder beruhigt, muss ebenfalls zügig gehandelt werden: Dann gilt es, die Systeme wieder zu öffnen, damit die Datenerfassung weitergeht und möglichst wenige Daten verloren gehen.

Auch mit unvorhergesehenen Ereignissen müssen die Wissenschaftler während der Schichten umgehen. Dann kann es auch schon mal stressig werden, berichtet das Team: „Vor dem Start unserer heutigen Schicht gab es in der Region des Observatoriums einen Stromausfall. Das hat dazu geführt, dass wir viele der dortigen Computer neu hochfahren mussten. Dadurch konnten wir erst etwas später anfangen, Daten aufzuzeichnen als eigentlich vorgesehen.“ Auch andere technische Störungen können auftreten.

Den Siegenern wird das auf den Bildschirmen als rot markierte Meldung angezeigt. In manchen Fällen ertönt auch ein akustisches Alarmsignal. Dann gelte es herauszufinden, wo das Problem liege – was oft gar nicht so einfachsei, sagt Niechciol: „Es gibt eine enorme Vielzahl möglicher Ursachen. Die kann man auch mit jahrelanger Erfahrung am Observatorium unmöglich alle kennen. Im Zweifel müssen wir einen Techniker in Argentinien aus dem Bett klingeln, der sich die Sache vor Ort anschaut.“

Dr. Eleonora Guido schließt per Fernsteuerung die Teleskope, wenn der Mond ungünstig steht und das helle Licht die Messungen stört.
Dr. Eleonora Guido schließt per Fernsteuerung die Teleskope, wenn der Mond ungünstig steht und das helle Licht die Messungen stört.
Foto: Tanja Hoffmann/Uni Siegen
Neben den Teleskopen können die Siegener auch andere Bestandteile des Detektors aus der Ferne überwachen: Dazu zählen Laser, die regelmäßig aktiviert werden, um die atmosphärischen Beobachtungsbedingungen zu kontrollieren. Und Radioantennen, die an den Wassertanks installiert sind und Radiowellen registrieren, die durch die kosmische Strahlung ausgelöst werden. Turnusmäßig übernimmt das Team dazu im Wechsel mit den internationalen Kollegen am Observatorium unterschiedliche Arten von Schichten, die jeweils über mehrere Nächte (oder im Fall der Radioantennen auch Tage) andauern.

Auch Siegener Nachwuchswissenschaftler können so an die praktische Arbeit am Experiment herangeführt werden und lernen, im Rahmen der Schichten Verantwortung zu übernehmen: Für die hochsensible und teure Messtechnik. Aber auch dafür, dass möglichst permanent qualitativ hochwertige Daten aufgezeichnet werden. Daten, auf die Wissenschaftler weltweit angewiesen sind, um das Rätsel der kosmischen Strahlung eines Tages zu lösen.

Physiker der Universität Siegen forschen seit 2004 am Pierre-Auger-Observatorium. Die Wissenschaftler arbeiten dabei im Verbund mit vier weiteren deutschen Universitäten. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert die Forschung und hat der Universität Siegen im Sommer weitere knapp 600.000 Euro Fördermittel bis 2026 zur Verfügung gestellt. Siegener Physiker sind sowohl an der Analyse der am Observatorium gewonnenen Daten als auch an der Weiterentwicklung der Messtechnik direkt beteiligt. Seit Anfang Dezember 2023 können sie den argentinischen Detektor auch „remote“ von Siegen aus überwachen.