Zwei Tage nach der Apokalypse im Ahrtal von Mittwochabend beginnen die Menschen in Dernau mit Aufräumarbeiten - Das Ausmaß bleibt noch unklar
Nach der Apokalypse im Ahrtal: Das Wasser geht zurück, Frust und Trauer bleiben – Erste Aufräumarbeiten in Dernau
Alles voller Schlamm und Wasser, Hubschrauber in der Luft: Dernau am zweiten Tag nach der verheerenden Sintflut vom Mittwochabend. Fotos: Jan Lindner
Jan Lindner

Dernau. Von der Weinsicht Sondersberg hat man einen wunderbaren Blick auf den idyllischen Ahrtal-Weinort Dernau. An diesem 16. Juli, dem zweiten Tag, nach dem das Tal von einer Apokalypse unvorstellbaren Ausmaßes heimgesucht wurde, blickt man vor allem auf braunen Schlamm und dreckiges Wasser, auf Nebel und Nieselregen. Zwar hat die Flutwelle vom Mittwochabend Dernau nicht so stark erwischt wie Schuld und Insul. Doch Leid, Schrecken, Zerstörung, Trauer, Frust, Ungewissheit und Resignation sind auch hier unbegreiflich groß.

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Dazu muss man nur ein paar Minuten an dem Aussichtspunkt oberhalb von Dernau stehen und zuhören. Ein paar Menschen sind hier, sie blicken bang, fassungslos und verzweifelt runter ins Tal: auf stark beschädigte Häuser, den mit Schlamm gefluteten Friedhof, auf die Ahr, die an diesem Tag deutlich an Wut und Geschwindigkeit eingebüßt hat, auf die zerstörten Brücken, auf den abgeschnittenen Ortsteil auf der anderen Flussseite, auf umgeworfene Autos und ausgerissene Bäume, auf Sachen, die innerhalb von Sekunden völlig wertlos geworden sind.

Ein Mann mittleren Alters versucht, seine Freundin jenseits der Ahr irgendwie zu erkennen. Er weiß, dass sie es am Mittwochabend grade so vor der rund acht Meter hohen Flutwelle geschafft hat: aus dem Haus, über die Garage, in den Berghang hinein. Um ihn zu erklimmen wie einige junge Leute, dafür war sie zu schwach. Seit 32 Stunden hat er nichts mehr von ihr gehört. Im gesamten Ahrtal gibt es noch immer kein Handy- und Telefonnetz, keinen Strom, kein Gas, kein fließendes Wasser. Vermutlich wird das noch Tage so weitergehen.

Ein jüngerer Mann erzählt, wie er an diesem schicksalhaften Mittwochabend seinen Eltern das Leben gerettet hat: „Als ich gesehen habe, wie schnell das Wasser steigt, habe ich zu ihnen gesagt: Packt das Wichtigste ein, wir hauen sofort ab. Wir sind aus dem Haus geschwommen, ich vorweg, mit der Strömung in eine andere Hofeinfahrt. Sonst wären wir ertrunken.“ Viele andere Menschen hätten nicht so schnell reagiert: „Sie saßen auf ihren Dächern und mussten von da gerettet werden.“ Andere hätten es vermutlich nicht geschafft – und seien ertrunken.

Eine jüngere Frau weiß, dass ihre Mutter im Ortsteil auf der anderen Seite noch da ist. Ob es ihr Vater und Bruder auch sind, weiß sie nicht sicher. Sie geht davon aus, aber sie kann sie seit eineinhalb Tagen nicht erreichen, weil die Netze zusammengebrochen sind. Weil die Brücken kaputt sind und die Strömung noch zu stark, um mit einem Boot überzusetzen. Dazu ist alles voller Schutt und Bäume.

Das ganze Ausmaß der Apokalypse ist auch zwei Tage später nicht mal im Ansatz absehbar. Einige Orte im Tal sind noch immer komplett von der Außenwelt abgeschnitten, weil Straßen und Brücken zerstört sind. Immerhin, Dernau ist über die Straße von Esch erreichbar. In andere Orte im Ahrtal sind selbst die Rettungskräfte bislang kaum vorgedrungen. Die Zahl der Toten steigt, viele Menschen werden vermisst. Wie viele es sind, auch das ist unklar.

Unten im Ort dröhnen drei Hubschrauber durch die Luft. Seit Donnerstag bringen sie Menschen von der abgeschnittenen auf die andere Ahr-Seite. Manche werden sofort in einen Krankenwagen gebracht, weil sie Hilfe oder Medikamente brauchen. Überall sind Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und DRK. Sie kommen auch den ganzen Tag über die A 61 aus dem Süden ins Katastrophengebiet Ahrtal, etwa aus Mainz, aus der Pfalz und Baden-Württemberg.

In Dernau sieht und hört man Traktoren und Bagger. Die Dernauer haben angefangen, Wasser, Schlamm und Schutt aus ihren Häusern zu schrubben und zu schaffen. Einige Gebäude sind so beschädigt, dass sie wohl abgerissen werden müssen.

Die Erdgeschosse sind voller Wasser, Schlamm und wertlos gewordenen Gegenständen, viele erste Etagen auch, selbst in manchen Räumen im zweiten Stock steht das Wasser einen halben Meter hoch. Menschen umarmen sich und spenden sich Trost. Auch zwei Tage später können sie nicht fassen, was am Mittwochabend über sie hereingebrochen ist. Allein, das „normale Leben muss ja auch weitergehen“, wie ein Mann sagt.

Am Donnerstag stand das Wasser einen Meter über der Straße. Der Mann berichtet von Menschen, die mit weißen Tüchern aus den Fenstern gewunken haben, damit sie ausgeflogen werden. Ein Teenager erzählt, wie er am Abend der Katastrophe mit seiner Familie in den dritten Stock geflüchtet ist: „Wir haben gesehen, wie das Wasser immer weiter gestiegen ist und hatten nur noch elf Treppenstufen. Sonst wären wir komplett im Wasser gewesen.“ In der Nacht zum Freitag ist das Wasser stark zurückgegangen, endlich.

Ein anderer Mann ärgert sich, dass die Katastrophen-Warn-App Katwarn keinen Mucks von sich gegeben habe: „Dabei hat es Schuld eine Weile vor uns erwischt. Dann wären wir wenigstens vorgewarnt gewesen.“ Auch er hat gesehen, wie die Flutwelle Häusergiebel berührt hat, wie Menschen ins zweite Obergeschoss geflüchtet sind – darunter Kleinkinder.

Manche hätten die Nacht auf dem Speicher verbracht und gebetet, dass das Wasser nicht noch weiter steigt. Andere hätten angefangen, das Dach von innen abzudecken, um so zumindest einen Fluchtweg zu haben. Immerhin hätten sie einen gehabt – im Gegensatz zu Dutzenden anderen Menschen im Ahrtal an diesem grauenhaften 14. Juli 2021.

Von unserem Redakteur Jan Lindner

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