Kirchsahr

Von der Außenwelt abgeschnitten: Das vergessene Dorf Kirchsahr

Von Sandra Fischer
Willi Paffenholz steht vor seinem zerstörten Haus und dem Ruin. Doch der 61-Jährige lässt sich nicht unterkriegen: „Wir bauen wieder auf.“
Willi Paffenholz steht vor seinem zerstörten Haus und dem Ruin. Doch der 61-Jährige lässt sich nicht unterkriegen: „Wir bauen wieder auf.“ Foto: Sascha Ditscher

„Käffchen, Tee, was zu essen?“ Nicht unbedingt ein Satz, den Hilfskräfte erwarten, wenn sie in ein Katastrophengebiet kommen. Doch dass Kirchsahr alles andere als gewöhnlich ist, wird schnell klar. „Wir dachten, ihr hättet uns vergessen“, sagt Stefan Zavelberg zwar mit einem Augenzwinkern, aber dennoch merkt man, dass dies die Urangst der rund 400 Einwohner der Ahrgemeinde ist. „Aber wir sind es ja gewohnt, am Arsch der Welt zu sein“, ergänzt Stefan Reitler.

Lesezeit: 7 Minuten
Anzeige

Denn die sonst so idyllische Gemeinde schmiegt sich in ein Seitental der Ahr. Hier muss man bewusst hinfahren, zufällig kommt hier niemand vorbei. Zu Zeiten ohne Hochwasser ist das Sahrtal ein beliebtes Ausflugsziel von Wanderern aus bundesdeutschen Landen, den Niederlanden und Belgien, erzählt Elisabeth Reitler. Nun zieht die Gemeinde teils ein ganz anderes Klientel an – Sensationstouris mit Handy und Kamera, auf der Suche nach dem besten Selfie für Insta oder Facebook. „Zum Kotzen“, findet Susanne Nolden-Röhr, Frau des örtlichen Wehrführers, die gerade mit der frohen Botschaft vom Eintreffen einiger Hilfskräfte auf den Reitler'schen Balkon kommt. Während die Straßen – oder das, was von ihnen übrig blieb – noch gespenstig leer sind, trifft sich hier die Nachbarschaft zu Austausch, Frühstück und kleiner Verschnaufpause zwischendurch. „Wir sind einfach durch“, sagt Elisabeth Reitler mit Blick auf die schlafende Nachbarin, die sich auf der Bank zusammengerollt hat.

Vom Balkon hat man einen guten Blick auf den Sahrbach, ein normalerweise kleines Rinnsal, das – wenn es nicht ausgetrocknet ist – gerade mal fünf Zentimeter hoch steht, sodass man es üblicherweise fast trockenen Fußes durchqueren kann. In jener Schicksalsnacht schwoll das Bächlein jedoch auf das Tausendste seiner Kapazitäten an, wie die Fotos und Videos, die die Betroffenen mit ihren Handys gemacht haben und nun zwischen Brötchen und Kaffee herumzeigen, beweisen. „Um 17 Uhr hab ich meiner Frau, die in Bonn auf der Arbeit war, noch auf WhatsApp ein Foto vom Bach geschickt. Der stand bis kurz unter die Brücke, so hoch war der in 25 Jahren noch nie“, erzählt Stefan Reiter.

Kurze Zeit später ist klar, dass sich die Situation nicht entspannt, ganz im Gegenteil. Reitler und Sohn Jan versuchen, das Haus zu schützen, und füllen Sandsäcke. Doch mit dem, was nachher noch passieren sollte, hat keiner gerechnet. Da sich inzwischen nicht nur der Sahrbach zu einem reißenden Strom entwickelt hat, sondern auch aus den höheren Lagen ganze Sturzbäche nach unten fließen, sind Jan und Stefan Reitler bald von ihrem Haus abgeschnitten. Zusammen mit anderen finden sie Zuflucht bei der Nachbarin. Etwa zehn Leute, nass bis auf die Knochen, wärmen sich notdürftig an einem Ofen und checken zwischendurch immer mal wieder bei den Nachbarn.

Reitler leiht der Nachbarin sein Telefon, damit diese ihre Angehörigen verständigen kann. Um 19.45 Uhr spricht er zum letzten Mal mit seiner Frau, die keine Chance hat, an diesem Abend nach Hause zurückzukehren. Dann ist die Leitung tot. „Ich hab einfach nur gedacht, der Akku sei leer. Ich war ja in einer ganz anderen Welt, für mich war das einfach nur ganz normaler Regen“, berichtet Elisabeth Reitler, die die Nacht bei ihrer Tochter in Freisheim verbringt. Doch für die Menschen in ihrem Heimatort ist es mehr als Regen. Es ist die alles zerstörende Sintflut. Durch das ohrenbetäubende Rauschen und Grollen der Wassermassen und die Angst, was noch kommen mag, ist an Schlaf kaum zu denken. Irgendwann fallen den Anwohnern vor Erschöpfung die Augen zu, doch kaum wird es hell, sind sie wieder hellwach.

Auch Wirtin Andrea Heegs Existenz wurde durch die Flut zerstört. Zum Glück konnte sie wenigstens ein Bild retten, das ihr sehr viel bedeutet.
Auch Wirtin Andrea Heegs Existenz wurde durch die Flut zerstört. Zum Glück konnte sie wenigstens ein Bild retten, das ihr sehr viel bedeutet.
Foto: Sascha Ditscher

Das Erlebte schweißt zusammen

Gegen 6 Uhr kann auch Harald Haarmann endlich nach Kirchsahr zurückkehren. „Als ich gegen 18 Uhr von Remagen nach Hause wollte, waren alle drei Zuwege zu. Das Wasser stand teilweise eineinhalb Meter hoch.“ Haarman versucht, über Umwege nach Hause zu gelangen, und denkt „Dann werd' ich halt ein bisschen nass“, aber ein Feuerwehrmann versperrt ihm den Weg: „Da gehst du nicht durch. Da biste weg.“ Recht hat er, der Brandschützer. Das muss auch Haarman einsehen und verbringt die Nacht bei Freunden in Wald. Kaum kann er sich am nächsten Morgen einen Weg ins Dorf bahnen, packt er mit an, versucht, das Wasser umzuleiten und aus allem, was zur Hand ist, Sandsäcke zu bauen. „Da muss erst so eine Katastrophe passieren, damit man sich kennenlernt“, scherzt Haarman, der erst vor ein paar Jahren nach Kirchsahr gezogen ist. „Vom Sehen kannte man sich, hat sich immer gegrüßt“ – jetzt sitzen die Alteingesessenen und der „Dazugezogene“ an einem Tisch, das gemeinsam Erlebte hat die ohnehin enge Dorfgemeinschaft noch enger zusammengeschweißt.

„Uns geht es doch gut. Wir haben unser Leben und uns, mehr brauchen wir nicht“, bringt es Susanne Nolden-Röhr auf den Punkt. Die anderen stimmen ihr zu: „Die Solidarität hier ist einfach der Hammer.“ Im Gespräch mit den Betroffenen wird klar, das ist größtenteils der Verdienst von Ortsbürgermeister Stefan Zavelberg und Wehrführer Erwin Nolden. Diese haben nicht lange gefackelt, sondern sofort reagiert. So beauftragte der Ortschef schon am Samstag nach der Katastrophe eine Baufirma, um die Straßen wieder einigermaßen herzustellen: „Wir brauchen doch unsere Lebensadern.“ Auch mit dem Stromversorger wurde unbürokratisch verhandelt, und schon am Samstagabend gab es wieder Straßenbeleuchtung in Kirchsahr. „Leute von außerhalb sagen immer, ihr seid acht Tage weiter als die anderen betroffenen Gebiete. Und das ist alles auf unser prima Netzwerk und die Hilfe von Privatleuten und der Gemeinde zurückzuführen“, singt auch Andrea Heeg ein Loblied auf die außergewöhnliche Eigeninitiative, die in Kirchsahr gelebt wird. Denn die offiziellen Rettungskräfte finden erst etwa eine Woche später den Weg ins zerstörte Tal. Mit Notstromaggregaten kühlen die Bewohner ihre Vorräte, weitere Lebensmittel werden per Helikopter ins abgeschnittene Tal gebracht, bis die Gemeinde wieder für die Außenwelt erreichbar ist.

Viele Straßen wurden unterspült und sind nicht mehr befahrbar.
Viele Straßen wurden unterspült und sind nicht mehr befahrbar.
Foto: Sascha Ditscher

Seit 13 Jahren ist Andrea Heeg in der Ahrgemeinde und führt die örtliche Gaststätte mit einem Boutiquehotel. „Gerade habe ich noch eine zusätzliche Ferienwohnung renoviert, die ist jetzt komplett zugeschlammt“, berichtet sie. Nach der Corona-Zwangspause konnte Heeg im Mai endlich wieder öffnen, nur um jetzt vor den Trümmern ihrer Existenz zu stehen. „Das wird dieses Jahr nichts mehr“, zieht sie nüchtern Bilanz, als sie im ehemaligen Frühstücks- und Thekenraum steht und auf die Markierungen zeigt, die das Wasser hinterlassen hat. „Brusthoch“ habe es gestanden. „Es geht ganz schnell, eine Existenz zu verlieren“, resümiert Heeg, die zwar versichert ist, nun aber erst einmal warten muss, bis der Schaden inspiziert und evaluiert ist. Beim Gang durch das Lokal bietet sich ein Bild der Verwüstung. Im Veranstaltungssaal hat sich der Ziegelboden nach oben gedrückt, das, was gerettet werden konnte, ist fein säuberlich aufgestapelt, im Hof steht ein Container mit zu Bruch gegangenem Porzellan und Glas. Ein Bild, das ihr besonders am Herzen liegt, konnte Andrea Heeg glücklicherweise vor den Fluten retten. Der historische Druck zeigt eine lächelnde Frau beim Wäschewaschen in einem Bottich. „Dieses Bild hat mich am Leben gehalten. Jedes Mal, wenn ich in den Frühstücksraum komme, sehe ich diese Frau und empfinde so viel Respekt und Anerkennung für sie.“ Die Frau habe damals die Wäsche im Dorf gewaschen, um ihre Familie und die alten Männer, die nicht zum Krieg eingezogen wurden, zu versorgen. Nachdem ihr Haus abbrannte, habe die Gemeinde geholfen, es wieder aufzubauen. „Bei all der Arbeit und all den Schicksalschlägen ist die Frau immer noch so guten Mutes und lächelt“, sagt Heeg und räumt tapfer weiter auf.

Erster und gleich größter Einsatz

Tapfer absolviert auch Anna Nolden ihren ersten und größten Einsatz als Feuerwehrfrau. Erst im März wurde die 16-Jährige vereidigt, im April machte sie ihren Grundlehrgang. Und nun muss sie ihre ersten Sporen gleich im Jahrhunderthochwasser verdienen. Das fing erst einmal ganz unspektakulär mit dem Beseitigen von umgestürzten Bäumen und dem Verteilen von Sandsäcken an. Doch innerhalb kürzester Zeit erweiterte sich das Aufgabenfeld auch auf Menschenrettung. Insgesamt fünf ältere Menschen mussten aus ihren Häusern geholt werden. Einer der Einsätze ist der Jungfeuerwehrfrau besonders im Gedächtnis geblieben. „Das war ziemlich dramatisch. Wir sind mit Traktor und Heckmulde los, haben dann eine dreiteilige Steckleiter an das Haus der betroffenen Dame gestellt, mein Vater hat sich dann angebunden, ist rübergeklettert, die Dame wurde auf einer Trage gesichert, über die Leiter in die Heckmulde befördert und so in Sicherheit gebracht.“ Und dabei hatte die 16-Jährige keine Angst? „Doch, ich habe ja meinen eigenen Vater auf der Leiter gesichert, das ist schon eine große Verantwortung, da war ich doppelt froh, dass alles gut gegangen ist.“ Auf die Frage, wie sie mit der Ausnahmesituation klarkommt, sagt Anna: „Ich funktioniere. In meiner Rolle als Feuerwehrfrau mache ich, was gemacht werden muss.“ Und gemacht werden muss nach wie vor vieles: Keller auspumpen, Schlamm wegschleppen, das ganze Programm. „Zum Glück sind ja Sommerferien“, schmunzelt die Schülerin, die sich im Klaren ist, dass die Normalität noch lange nicht ins idyllische Kirchsahr zurückkehren wird. Doch damit alle das Geschehene besser verkraften, wird abends in der Nachbarschaft zusammen gegessen und über die Ereignisse des Tages gesprochen, um alles zu verarbeiten.

Diese Gastronomieküche wurde komplett geflutet.
Diese Gastronomieküche wurde komplett geflutet.
Foto: Sascha Ditscher

Verarbeiten muss auch Willi Paffenholz, was passiert ist. „Ich stehe vor dem Ruin.“ Der 61-Jährige blickt auf die Trümmer seines Hauses, lediglich der Mittelteil ist stehen geblieben. Die Wände der Scheune und der einen Haushälfte sind fortgespült worden und geben den Blick in ehemalige Räume frei. Im oberen Stockwerk kommen einem Heizkörper, Regal, Heimtrainer, Fernsehgerät, Wäscheständer, Stühle und ein einzelner Damenschuh entgegen. „Das war unser Rumpelzimmer, und das da unten waren Küche und Schlafzimmer, da sieht man nur noch die Dunstabzugshaube. Die war ganz neu.“ Der 61-Jährige ist immer noch emotional, wenn er an die Unglücksnacht denkt. Wie er versucht hatte, das Tor mit Teppichen dicht zu machen, wie plötzlich die Wände weggerissen wurden, wie er und seine Frau Cornelia sich mit den beiden Terriern Dina und Elfie an einem Stahlseil zum Nachbarn hangelten, um sich vor den Fluten in Sicherheit zu bringen. Und wie sie vorher noch Wellensittich Ping retteten, der dann aber in der Nacht von einem Tier geholt wurde. Im Schuppen neben dem Haus steht Pings leerer Käfig, am Boden liegt das Stahlseil, das die Rettung bot. Doch Willi Paffenholz schaut optimistisch in die Zukunft. „Wir haben eine Perspektive, wir wollen wieder aufbauen.“

An Tag zehn nach der Hochwasserkatastrophe, die das Ahrtal sogar auf die Titelseite der „New York Times“ katapultierte, schauen auch die anderen Betroffenen optimistisch in die Zukunft. Bis auf Binzenbach haben alle Ortsteile von Kirchsahr inzwischen wieder Strom, auch das Handynetz funktioniert wieder. Als Nächstes soll mit Lebensmittelfarbe versetztes Wasser in die Toiletten geschüttet werden, um zu sehen, welche Häuser noch an die Kanalisation angeschlossen sind und welche nicht. Und heute Nachmittag gibt es bei Reitlers erst mal wieder Kaffee und Kuchen für jeden, der will. Denn der Zusammenhalt ist wichtig. Und morgen will Elisabeth Reitler mal raus: „ich will einfach noch mal ein ganzes Dorf sehen.“