Sinzig

Sie trotzen der Zerstörung: Im Grünen Weg in Sinzig schwanken die Anwohner zwischen Trauer und Tatendrang

Von Tim Saynisch
Die Straße Grüner Weg in Sinzig wurde von den Fluten in Mitleidenschaft gezogen. In den meisten Häusern stand das Wasser im Erdgeschoss bis unter die Decke. Hier, an der Unterahr, beginnen die Menschen jetzt mit den Aufräumarbeiten und begreifen langsam, mit welchen Schäden sie sich konfrontiert sehen. Viele im Grünen Weg haben keine Elementarversicherung.
Die Straße Grüner Weg in Sinzig wurde von den Fluten in Mitleidenschaft gezogen. In den meisten Häusern stand das Wasser im Erdgeschoss bis unter die Decke. Hier, an der Unterahr, beginnen die Menschen jetzt mit den Aufräumarbeiten und begreifen langsam, mit welchen Schäden sie sich konfrontiert sehen. Viele im Grünen Weg haben keine Elementarversicherung. Foto: tsy

Wir schreiben Tag drei nach der Flutkatastrophe. Während am Samstag in den Orten am Ober- und Mittellauf der Ahr teilweise noch das Wasser in den Straßen steht, Bergepanzer der Bundeswehr den Schutt wegräumen – weil kaum andere Fahrzeuge über die kaputten Straßen dorthin gelangen konnten – und die Menschen vielerorts noch um ihre Liebsten bangen, weil sie tagelang nichts von ihnen gehört haben, wird in Sinzig bereits kräftig angepackt und aufgeräumt. In der Straße Grüner Weg, die unmittelbar an der Ahr liegt – nur zwei Fußballfelder trennen das Wohngebiet von dem Fluss – ist nichts mehr grün.

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Der Grüne Weg war stark von der reißenden Flutwelle betroffen und ist braun von der Brühe und dem Schlamm, die die Straße und die Grundstücke noch bis Freitag bedeckt hatten. Jetzt ist das Wasser weg, der braune Staub auf dem Asphalt ist geblieben, und die Schäden werden sichtbar. Doch statt aufgrund des nun einschätzbaren Ausmaßes der Zerstörung zu verzweifeln, packen die Anwohner an und räumen Schritt für Schritt auf. Zugegeben, es sind kleine Schritte auf einem langen Weg.

Am Anfang der Straße wohnen Monika Weber-Lambert und ihr Mann Michael Lambert. Mehr als zehn Jahre hatten sie ihr pastellgelb gestrichenes Haus renoviert, vor sechs Wochen erst den Garten neu gestaltet. „All die Arbeit, all die Mühen – umsonst. Und so geht es vielen in der Straße. Ein Paar ist erst vor drei Jahren eingezogen, hat in der Zeit das Haus renoviert. Die stehen jetzt auch vor den Scherben ihrer Existenz“, berichtet Michael Lambert. Er zeigt uns den Eingangsbereich seines Hauses und weist auf eine deutlich sichtbare, dunkle Linie an der Wand. „Bis dorthin stand das Wasser, 1,70 Meter hoch, und dazu kommt noch der Treppenabsatz von 1,20 Meter Höhe“, rechnet er vor. Immer wieder wuseln Menschen um ihn herum. Jungs in schwarzen T-Shirts, „das sind Freunde von meinem Sohn aus dem Junggesellenverein“, und auch Männer und Frauen in Tarnhosen „und die sind, selbsterklärend, von der Bundeswehr“, berichtet Lambert.

Eimerweise befördern die Helfer Schutt und Schlamm aus dem Haus, einer ist nur damit beschäftigt, mit einer Schubkarre immer wieder Matsch vom Grundstück zu fahren. „Die Hilfsbereitschaft ist unglaublich groß, auch unter den Nachbarn“, berichtet Lambert, und just in dem Moment kommt auch eine Nachbarin mit der Bitte, ihr eine Schaufel zu leihen. „Jeder hilft sich, das macht Mut“, freut sich Lambert. Wohl auch die einzige Freude an diesem surrealen Samstag.

„Emotionen darf man hier gar nicht zulassen, hier ist reines Funktionieren gefragt“, ordnet der Familienvater die Situation ein, ehe unser Gespräch jäh beendet wird. „Wir brauchen Benzin!“, ruft eine Stimme aus dem Vorgarten. Es ist einer der Freunde des Sohnes aus dem Junggesellenverein, der mit ausgestrecktem Arm und matschbeschmiertem Handschuh auf ein stotterndes Stromaggregat weist. „Ich muss schnell nachtanken“, mit diesen Worten verabschiedet sich Michael Lambert.

Auch bei den Nachbarn steht ein Stromaggregat im Hof. „Ich glaube, das ist gar nicht unseres, unseres hat nämlich den Geist aufgegeben“, berichtet Louisa Huyeng, die Tochter der Hausbesitzer. In diesen Zeiten scheint es im grünen Weg auch egal zu sein, wem etwas gehört. Was gebraucht wird, wird hingestellt. Nicht nur mit Händen hilft man sich in der Straße aus, auch mit Material. „Gestern kam einfach ein Gartenbauer mit seinem Bagger vorbei und hat geholfen, den Schutt aus dem Hof zu räumen. Die Jungs machen das, ohne dadurch irgendeinen Vorteil zu haben. Auch mein Sohn ist momentan in Ahrweiler mit dem Lader zugange“, zeigt sich Louisas Stiefvater Olaf Horstmann begeistert von der Solidarität.

Olaf Horstmann hat durch die Fluten viel verloren. Sein Garten sieht aus wie ein Acker, perforiert durch Gummistiefelabdrücke der Helfer, und auch das erste Stockwerk seines Hauses wird auf längere Zeit unbewohnbar sein. Die Anwohner priorisieren, retten zuerst, was ihnen am wichtigsten erscheint. „Allerdings darf es nicht antrocknen, dann haben wir verloren“, erklärt Huyeng. Das größte Problem: Es gibt kein fließendes Wasser. „So müssen wir alles mit Schaufel und Schubkarre vom Grundstück schaffen, und das dauert.“

Im Hof schieben derweil sechs Männer einen mit Schutt beladenen Anhänger in Richtung Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite, wo das Grundstück nicht bebaut ist, hat sich bereits ein Schuttberg angetürmt. Etwa 15 Leute helfen Louisa Huyeng und ihrem Stiefvater beim Aufräumen, darunter auch Männer aus dem Schützenverein. „Guckt mal, das Surfbrett. Ab auf die Ahr und lasst uns gleiten“, ruft einer der Schützen, der gerade die Garage ausräumt, den Männern am Anhänger hinterher. Sie lachen. „Ohne ein Augenzwinkern geht es nicht. Hier muss auch mal gelacht werden, sonst verkraftet man die Situation nicht“, sagt Huyeng.

Während des Gesprächs hört man immer wieder ein Martinshorn, nicht nur von der Feuerwehr, auch Fahrzeuge des THW fahren durch die Straße. Überall im Grünen Weg zeichnet sich ein ähnliches Bild ab: Kleinbagger rotieren in Einfahrten und schaffen den Schlamm aus den Höfen. Hier und da hört man eine Kettensäge aufheulen, weil ein Baum auf ein Auto gestürzt ist. Und überall liegen die Dieselabgase der schweren Maschinen in der Luft. Und gerade weil diese Szenen so ähnlich anmuten und alle dasselbe Schicksal teilen, steht die Straße wie eine unumstößliche Einheit zusammen. Auch Unbeteiligte reihen sich ein.

An einer kleinen Klinkermauer vor einem Einfamilienhaus legen Philipp Flohe und sein Freund Maximilian zwei schwere Rucksäcke mit Proviant sowie Besen und Schaufeln ab. Die beiden 22-Jährigen sind aus Bad Breisig angereist. „Wir wollen einfach nur helfen. Wir haben geschaut, wo man noch relativ gut hinkommt mit dem Auto und wo Hilfe gebraucht wird, und sind einfach auf eigene Faust losgefahren. Wir machen heute so lange mit, wie unsere Kräfte reichen“, zeigt sich Flohe entschlossen. Damit steht er nicht allein dar. Immer wieder trifft man auf der Straße Menschen, die einfach an fremden Gartentoren fragen, ob sie helfen können. Und auch auf andere Weise, nicht nur durch körperliche Arbeit, bieten Menschen ihre Hilfe für die Betroffenen an.

Im letzten Drittel der Straße, kurz hinter einer THW-Sammelstelle, steht ein weißer Tanklaster eines Unternehmers aus Wassenach. Der Fahrer des Lkw steht laut telefonierend daneben. „Wenn ich hier fertig bin, geht es sofort weiter nach Ahrweiler. Das kannst du denen schon einmal sagen“, brüllt er in sein Telefon. Der Kraftfahrer heißt Johannes Mohr und erklärt: „Ich habe meinen Chef gefragt, ob ich Diesel in die betroffenen Gebiete fahren kann. Und so bin ich jetzt schon seit vorgestern unterwegs und mache das heute und auch morgen ehrenamtlich. Unter der Woche muss ich arbeiten, aber so kann ich wenigstens am Wochenende aus freien Stücken helfen.“ 12.000 Liter Diesel seien in seinem Tankwagen, berichtet Mohr. „Ein Teil davon geht noch an die Ahrtal-Werke und auch an Krankenhäuser. Ansonsten versorge ich die Fahrzeuge der Westnetz, damit die Leute bald wieder Strom haben. Die Tankstellen haben ja alle zu.“ Schwungvoll wirft sich der Mann in seinen Fahrersitz.

Als der Tanklaster wegrollt, gibt er den Blick auf ein Unternehmen am Ende der Straße frei. Die Buchstaben P und E in weißer Schrift auf blauem Grund sind auf einem Firmenschild an einem Mast montiert. Es ist wohl eines der wenigen Bauteile an der Halle des Fachmarkts für Innenausstattung, das trocken geblieben ist. Vor dem Eingang steht Geschäftsführer Marcel Müller neben seiner Schwiegeroma an einem auf Paletten aufgebauten Verpflegungsstand. „Die Halle hat eine Fläche von 3500 Quadratmetern und stand bis zur Türoberkante unter Wasser“, berichtet Müller. Etwa 35 Leute seien damit beschäftigt, verschlammte Farbeimer, Teppiche und Tapeten aus der Halle zu räumen. Im Inneren haben sie sich in der Mitte der Halle einen matschfreien Gang erarbeitet. Ansonsten steht der Morast knöchelhoch in der ehemaligen Ausstellung. „500.000 Euro Warenwert sind dahin. Und das, nachdem es nach Corona wieder aufwärtsging“, erklärt Müller.

Immer wieder kommen Helfer zum Verpflegungsstand, holen sich belegte Brötchen, Kaffee, Wasser, Bier oder etwas Süßes. „Jeder, der bei uns hilft, wird von der Oma meiner Freundin versorgt. Gestern hat sie auch noch mit angepackt, aber hier ist sie mit über 80 doch besser aufgehoben.“ Alle, die von dannen ziehen und ein Brötchen aus den Händen der alten Dame erhalten haben, haben ein Lächeln auf dem Gesicht. In Sinzig freut man sich, wenn überhaupt, derzeit über die kleinen Dinge, seien es belegte Brötchen, Umarmungen oder die verloren geglaubte Schatulle mit den Familienfotos, die man doch noch gefunden hat und trocknen und retten kann.

Damit es aber wirklich vorangehen kann, braucht es Geld aus Mainz, Berlin und auch Brüssel. Aus eigener Kraft werden viele in Sinzig und auch anderswo an der Ahr nicht mehr auf die Beine kommen. Bis auf Marcel Müller haben alle, mit denen wir im Grünen Weg gesprochen haben, keine Elementarversicherung. Tim Saynisch