Schicksale aus Altenburg: „Ich kann hier nicht mehr wohnen“

Von Uli Adams
Es sind Schicksale, die an die Nieren gehen. Menschen, die ihre Häuser nicht mehr aufbauen wollen.
Es sind Schicksale, die an die Nieren gehen. Menschen, die ihre Häuser nicht mehr aufbauen wollen. Foto: Uli Adams

Unter einer dicken Schlammschicht liegt das Hochzeitsfoto aus den 60er-Jahren. Es stand im Wohnzimmer auf dem Sekretär neben all den anderen Familienbildern mit Kindern und Enkelkindern. Die Fotografien sind nicht mehr zu retten, landen auf dem Schutthaufen vor dem Haus einer Familie aus Altenburg, das 40 Jahre ihr Zuhause war. Ein Schicksal, das sie mit vielen Menschen aus dem Altenahrer Ortsteil teilen, der in der Nacht zu Donnerstag von der Ahr geflutet wurde wie eine Badewanne. Altenburg ist wie eine Bucht im Ahrgebirge, vorn die Ahr, dahinter, in einem Kessel, das Dorf, das von steil aufsteigenden Berghängen begrenzt wird. Es gab kein Entrinnen für die Altenburger. Und diese Familie erlebt einen Doppelschlag, den sie selbst bis heute noch nicht wirklich begreifen kann.

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Als der große Regen kommt, sind die Senioren, 74 und fast 75 Jahre alt, auf dem Weg nach Passau. Eine Flusskreuzfahrt auf der Donau ist für Donnerstag geplant. Der erste Urlaub nach Jahren, in denen Krankheiten ihr Leben bestimmt haben. Extra einen Tag früher sind sie in Altenburg losgefahren. Eine Übernachtung auf der Strecke ist eingeplant, um am nächsten Tag entspannt auf dem Schiff einzusteigen. Am Donnerstagmorgen sehen sie im Fernsehen des Hotels die ersten Bilder von der Flutkatastrophe an der Ahr. Kurz danach ruft die älteste Tochter an. Sie kehren um.

Rollstuhlfahrer über ein Bügelbrett in den Hang geschleppt

Ihre jüngste Tochter ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht gerettet. Sie liegt mit Mann, Tochter und den Nachbarn aus der Doppelhaushälfte in einem Berghang im Altenahrer Ortsteil Altenburg. Dorthin haben sie sich in der Hochwassernacht in letzter Minute gerettet. Als die braune Brühe ins Haus schwappt, spürt der Familienvater: „Das geht nicht gut.“ Sie klingeln bei den Nachbarn und müssen den 86-jährigen Schwerbehinderten und seine Frau überzeugen, mit ihnen die Flucht zu ergreifen. Über ein Bügelbrett und eine Matratze schleppen sie den Rollstuhlfahrer in den Hang. Bis fast unter den Dachstuhl läuft das Haus in dieser Nacht voll. 14 Stunden harren sie im Berghang aus, ehe sie von einem Hubschrauber in Sicherheit gehoben werden.

Erst am vergangenen Montag sehen sie sich nach vielen Telefonaten physisch wieder. Ein tränenreiches Sich-in-die-Arme-Fallen und Froh-Sein, dass alle überlebten. Das haben nicht alle in Altenburg. Von vier Toten ist am Montag in Altenburg die Rede. Sie kennen die Flutopfer, die nicht überlebten. Überhaupt, hier kennt noch fast jeder jeden. Lange wurde die Bäckerfamilie vermisst, jetzt heißt es, alle drei seien aus ihrem zerstörten Betrieb und Wohnhaus per Kanu gerettet und verletzt in ein Krankenhaus gebracht worden.

Altenburg an der Ahr: Aufräumen lautet die Aufgabe. Doch immer wieder werden private Dinge entdeckt.
Altenburg an der Ahr: Aufräumen lautet die Aufgabe. Doch immer wieder werden private Dinge entdeckt.
Foto: Uli Adams

Es gibt für die beiden Familien nicht viel zu inspizieren in ihren Häusern. Totalschaden im Innern. Zerborstene Fensterscheiben, eingedrückte Türen, Möbel und alle anderen Haushaltsgegenstände liegen in einer Schlammbrühe, die die Ahr zurückgelassen hat. Ob das Haus der Tochter wieder bewohnbar gemacht werden kann, müssen Statiker entscheiden. Besser sieht es auf den ersten Blick bei den Eltern aus, die ganz am Ende des Kessels, an den Berghängen, vor mehr als 40 Jahren ihr Einfamilienhaus Stein für Stein in Eigenleistung gebaut haben. Dort, rund 300 Meter von der Ahr entfernt, kletterte das Wasser mindestens vier Meter über Straßenniveau hoch bis in die erste Etage. Auch hier muss alles raus – Wohnzimmer, Esszimmer, Küche, die Möbel im Wintergarten, im Flur und im Keller, wo es neben zwei Garagen noch einen Gästebereich mit Bad und Küche gibt.

Die Familien sind nicht allein. Die Verwandtschaft packt mit an, und ganz schnell stehen auch Freiwilligentrupps in den Häusern. Eine Gruppe aus Niedersachsen ist bei der Tochter, und ein fünfköpfiger Trupp aus dem Bonner Raum packt bei den Eltern mit an. Vorgestellt wird sich kaum, alle packen, was vor ihnen liegt. Zeit zum Sortieren wird nicht verschwendet, Wasser und Schlamm haben ganze Arbeit geleistet. Da ist nichts mehr zu retten. Sessel, Stühle, Sitzgarnituren, Tische fliegen durch die zerborstenen Fenster, damit man an den Schlamm kommt, der ansonsten in den nächsten Tagen hart wie Beton wird. Leitungswasser gibt es genauso wenig wie Strom in Altenahr und den anderen Dörfern. Hochdruckreiniger oder andere elektrische Gerätschaften können nicht helfen.

Wenn die großen Möbel aus dem Haus sind, wird es persönlich. Überall Erinnerungsstücke, kleine Dinge, an denen man hängt, lieb gewonnenes Dekor, die ein Haus heimisch machen und eine Familiengeschichte erzählen. Mehr als 3000 Dias und Fotos und etliche Videofilme hat der 75-Jährige im Laufe seines Lebens gemacht. Die ganze Familiengeschichte hat er festgehalten. Geburten, Hochzeiten, Familienfeiern stecken im Schlamm. Die Fotos von den Urlauben. Verschwommen sieht man noch, dass sie in Spanien mit den Kindern waren. Ampuria Brava war ihr Lieblingsort. 2018, zur Goldenen Hochzeit, sind sie noch mal alle mit Mann und Maus dorthingereist. Diese Reise gibt es vielleicht noch digital, alles andere aus den Jahren ohne Handys und Digitalkameras dürfte verloren sein.

Draußen vor dem Haus ist mittlerweile ein riesiger Schuttberg gewachsen. Der Nachbar hat seinen schon weitgehend abgebaut. Er konnte in den vergangenen Tagen in Eigenregie viel wegpacken mit Traktor und Anhänger. Er hat seine eigene Rettungsinfrastruktur aufgebaut. Um Wasser zum Abwaschen zu haben, hat er eine Viehtränke rangeschafft, von der jetzt alle in der kleinen Straße profitieren.

Familie auf der Abreise und ein Hänger voller Habseligkeiten

Vom „großen“ Krisenmanagement hält er offensichtlich nichts. „Da lief von der ersten Minute an vieles schief“, sagt er. Und als dann ein Bagger anrollt, der ein Haus weiter den dort liegenden Schutt abholt, erzählt er: „Der Bagger und der Lastwagen gehören einer Firma aus dem Kreis Erkelenz. Die wollte man am Sonntag in Kalenborn nicht runter ins Tal lassen. Der Lkw-Fahrer setzte sich aber vehement durch, jetzt wird er hier an jeder Ecke gebraucht.“

Ein Haus weiter steht ein Auto samt Anhänger mit den letzten Habseligkeiten. Die Familie ist auf der Abreise, sie verlässt Altenburg. „Ich bin 72 Jahre, ich kann nicht mehr von vorn anfangen. Das wird hier Jahre dauern.“ Für den einen Funken Optimismus, den der 75-Jährige noch hat, ist das ein schwerer Schlag. Die beiden haben hier am Altenburger Schulzentrum 40 Jahre gemeinsam gelebt. Abends auf der Fahrt zur Nichte im 60 Kilometer entfernten Ulmen in der Eifel, wo die beiden untergekommen sind, wird es das beherrschende Thema sein. Bleiben wir in Altenburg?

Uli Adams