Kreisstadt

Nach der Katastrophe folgt der Tourismus der Schamlosen: Die Polizei erklärt, wie sie damit umgeht

Von Nicolaj Meyer
Das „Sowohlalsauch“ ist zerstört: Jeannette Hennerice steht vor den Trümmern ihrer Existenz. Und muss sich auch noch über Schaulust ärgern.  Foto: Meyer
Das „Sowohlalsauch“ ist zerstört: Jeannette Hennerice steht vor den Trümmern ihrer Existenz. Und muss sich auch noch über Schaulust ärgern. Foto: Meyer

Zahlreich sind die Berichte von Helfern, die sich nach der Sintflut engagieren. Doch neben der Solidarität zeigen sich viele Menschen auch von einer ganz anderen, schaulustigen Seite. Die Flut der Neugier des Katastrophentourismus folgt an der Ahr nun den verheerenden Wassermassen.

Lesezeit: 3 Minuten
Anzeige

Ein Mann in offensichtlich sauberer Kleidung watet durch die in tiefem Matsch stehenden Straßen der zerstörten Kreisstadt. In der Hand hält er eine im Sonnenlicht funkelnde Spiegelreflexkamera. Immer wieder visiert er ein paar fleißige, wie mit braunen Flecken versehene, Helfer an: Es macht Knips. Ein älterer Herr zieht erst die Augenbrauen hoch und hält ihm dann seine Schippe warnend entgegen. Bis der junge Mann sich erklärt, die linke, freie Hand schützend zum Einhalt gerichtet: „Entschuldigen Sie bitte, ich bin als Journalist hier." Daraufhin weicht die Schippe wieder zu Boden. Die Menschen sind es leid, in ihrer Not auch noch zum Objekt von Gaffern zu werden.

Anwohner und Helfer sind sauer

„Selbst als Helfer mache ich keine Bilder“, sagt Philipp Gauh, der extra aus Bingen gekommen ist, um bei den Aufräumarbeiten in Bad Neuenahrs Martin-Luther-Kirche zur Seite zu stehen. Er fände es zwar in Ordnung, dass es Bilder von der Katastrophe gebe, aber dafür seien ja auch Journalisten da.

Nahe der Kirche, nur die Telegrafenstraße hoch, gibt es „Schuhe, Mode, Accessoires zum Verlieben“, so der Slogan von Jeannette Hennericis Geschäft „Sowohlalsauch“. Seit 2011 betreibt sie die Modeboutique für Frauen zusammen mit ihrem Mann Winfried Hennerici in Bad Neuenahr. Dieses Jahr sollte der zehnte Geburtstag gefeiert werden. Mit einem Lächeln befreit Hennerici ihr Geschäft vom Unrat der Sintflut. Schon seit über einer Woche. „Es muss weitergehen. Wir lieben doch unser Bad Neuenahr“, sagt sie mit großen Augen. Doch mit Ärger denkt sie an die ersten Tage nach der Wasserkatastrophe: „Gerade am Wochenende sind scharenweise Menschen hier durchgestapft: Touristen, mit einer Vorliebe für Katastrophen.“ Ein Bekannter von Hennerici habe daraufhin einen der Voyeure mit Matsch beworfen. Auch sie selbst habe den Passanten ordentlich ihre Meinung gesagt. Warum dieselben Menschen nicht lieber helfend zur Hand gehen, das kann sie nicht verstehen.

Der Polizei sind oft die Hände gebunden

Gaffer sorgen nicht nur für Ärger bei Betroffenen und Helfern in der von der Wasserkatastrophe überrollten Region, sie können auch wirkliche Probleme verursachen. Verena Scheurer von der Pressestelle des Polizeipräsidiums Koblenz berichtet, dass es generell einen großen Ansturm auf die Region gebe und somit auch starke Verkehrsbeeinträchtigungen. Katastrophentourismus mache diese Probleme dann noch größer. „Zwischen all den Helfern sind auch viele Leute dabei, die einfach neugierig sind.“ Eine wahre Flut an Katastrophentouristen habe man bei der Polizei allerdings nicht wahrgenommen, und es handle sich um ein alt bekanntes und wiederkehrendes Phänomen.

Einige Platzverweise habe die Polizei deshalb in Bad Neuenahr erteilt, allerdings gehe dies nur, wenn Gaffer Einsätze behinderten. „Es ist schließlich nicht verboten, sich in der Stadt aufzuhalten“, erklärt Scheurer. Weiterhin könne es die Polizei nicht leisten, im Straßenverkehr zwischen Gaffern und Helfern zu sortieren und Erstgenannte abzuweisen. „Katastrophentourismus ist überhaupt nicht nachvollziehbar, aber man kann es nicht verhindern“, fasst Scheuer zusammen. Florian Stadtfeld von der Polizeiinspektion Koblenz erklärt zusätzlich, dass ein neues Verkehrskonzept helfen solle, das neben Polizeikontrollen an den Zufahrtsstraßen über die Höhen hinab ins Katastrophengebiet auch vorsieht, die freiwilligen Helfer per Shuttlebussen ins Ahrtal zu transportieren (mehr dazu auf Seite 20).

Auch im Internet ist die Aufregung über Schaulust groß – und in einer Facebook-Gruppe geht es noch einen Schritt weiter: Eine Dame ärgert sich darüber, dass nicht Gaffer, sondern Helfer Bilder von sich ins Netz stellen, Selfies machen. „Wir in Bad Neuenahr-Ahrweiler“ heißt die Facebook-Gruppe, die eigentlich für Kleinanzeigen und Kulturhinweise genutzt wird. In der aktuellen Notsituation ist die Gruppe deutlich belebter als sonst. Viele Helfer und Hilfesuchenden tauschen sich aus.

Besonders viele Reaktionen hat aber nun kein Hilfsangebot, sondern ein Appell an die Menschlichkeit erhalten: „Selfies von sich selbst in dieser noch nie da gewesen Situation zu posten, in den Trümmern unserer Existenz, dabei lächelnd in die Kamera, während andere schuften, um ihr Hab und Gut zu retten, das finde ich geschmacklos. Wir in Dernau haben alles verloren. Dernau existiert nicht mehr, wie so viele andere Ortschaften auch!“ Der Beitrag erhält weit mehr als 100 Likes, was überdurchschnittlich viel ist im Vergleich zu anderen Beiträgen innerhalb dieser Gruppe. Die Reaktionen fallen unterschiedlich aus. Neben starkem Lob für das Statement gibt es vereinzelt andere Ansichten innerhalb des Kommentarfeldes: „Alles hat zwei Seiten: Es zeigt denen da draußen auch, was passiert, wenn wir weiter unachtsam mit unserer Umwelt umgehen, und welche Folgen das haben kann.“

Von unserem Redakteur

Nicolaj Meyer

Nicolaj Meyer zu Katastrophentourismus: Schamlos ist die Schaulust

Alcatraz in San Francisco oder Schlachtfelder der Weltkriege: Ist es nicht aufregend, Orte dieser Tragödien zu besuchen, sich die lauten Gewehrsalven vorzustellen? Wie es wohl wäre, dabei gewesen zu sein?

Wer diesen Kick sucht, dem sei es gegeben. Nur wer ist so schamlos und würde tatsächlich einen solchen Ort besuchen, während andere Menschen dort gerade leiden? Dort aktuell die Scherben ihrer Existenz buchstäblich aufsammeln. Das klingt verrückt! Das klingt unmoralisch! Das klingt unsolidarisch! Mit jeglichem Mangel an Empathie, als wären sie im Zoo, stapfen teils überhaupt nicht Ortskundige durch die Straßen Bad Neuenahrs, gefährden sich sogar selbst dabei und verstopfen unnötig die bereits zum Platzen vollen Straßen. Jeder hat doch schon einmal erlebt, wie es sich anfühlt, wenn andere einen in einer unglücklichen, unvorteilhaften Situation beobachten. Also muss doch ein jeder verstehen, wie sehr das gerade der falsche Zeitpunkt für einen Wochenendausflug in den bis vor kurzem so schönen Kurort ist. Nehmt lieber die manikürten Hände aus den Taschen. Packt mit an!

E-Mail: nicolaj.meyer@rhein-zeitung.net

Katastrophentourismus

Der Katastrophentourismus, auch „Dark tourism“ oder Schwarzer Tourismus genannt, ist definiert als die Anreise von Schaulustigen zu Orten, an denen es zu Tragödien kam. Voraussetzung für diese Art des Tourismus ist, dass die Menschen nicht mit der Intention des Helfens angereist sind, sondern aus reiner Neugier. Solche Reisen gehören zum Individualtourismus, da Unternehmen solche Reisen in der Regel nicht anbieten.

Hierbei gibt es Ausnahmen, wie zum Beispiel in Tschernobyl oder der umliegenden Stadt Prypjat. Dort bieten ukrainische Agenturen Führungen für Urlauber an. Ob diese Art von Tourismus legal ist oder nicht, kommt auf die verantwortliche Regierung und die örtlich geltenden Gesetze an.
Flutkatastrophe im Ahrtal
Meistgelesene Artikel