Schuld

In Schuld herrscht immer noch Fassungslosigkeit: Nach Katastrophe wächst neues Zusammengehörigkeitsgefühl

Von Petra Ochs
Die Helfer haben schon einiges gestemmt: Mittlerweile ist die Brücke zum Domhof, einem Ortsteil von Schuld, wieder so hergerichtet, dass Fußgänger sie überqueren können.
Die Helfer haben schon einiges gestemmt: Mittlerweile ist die Brücke zum Domhof, einem Ortsteil von Schuld, wieder so hergerichtet, dass Fußgänger sie überqueren können. Foto: privat

Schuld nach der Flut: Noch immer herrscht hier Fassungslosigkeit vor, aber auch Aufbruchsstimmung und eine große Dankbarkeit machen sich breit. Dankbar ist auch Sabine Jüngling. Ihr Haus in der Ahrstraße wurde von der Katastrophe verschont. Sie und ihre Familie sind mit dem Schrecken und etwas Wasser im Keller davongekommen. „Nicht der Rede wert“, sagt Jüngling. Und doch sind sie mittendrin in dem Chaos, das die Fluten der Ahr in ihrem Heimatdorf angerichtet haben.

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Die Katastrophe vorausgeahnt hatte niemand. „Wir haben es komplett unterschätzt“, gibt Sabine Jüngling zu. Spätnachmittags war sie noch mit den Kindern zur nahe gelegenen hölzernen Stefansbrücke gegangen, um sich die rauschende Ahr aus der Nähe anzusehen. Als sie zum Haus zurückgingen, standen sie auf der Straße schon mit den Füßen im Wasser. „Für meinen achtjährigen Sohn Lars war es ein Abenteuer“, erinnert sie sich. Von den Treppen an der Eingangstür besah er sich das Schauspiel, während die Eltern ihre Autos und das Wohnmobil noch schnell auf die höchste Stelle des Grundstücks rangierten und bei den Nachbarn nach dem Rechten schauten.

Als dann die ersten Autos vorbeischwammen, wurde Sabine Jüngling mehr als mulmig. Und das Wasser stieg weiter. Bäume am Ufer knickten um wie Streichhölzer. „Es roch nach Heizöl, es roch nach Gas“, erinnert sie sich. Die vorbeischwimmenden Gastanks bereiteten ihr besonders viel Sorge; sie dampften und zischten wie Dampfloks.

Ihrem Empfinden nach war es noch hell, als der Scheitelpunkt der Flut erreicht war. An der Grundstückshecke, die plötzlich wieder mehr zum Vorschein kam, konnten Sabine Jüngling und ihr Lebensgefährte Volker Schaefer sehen, dass das Wasser etwas zurückging. Der Regen hatte glücklicherweise nachgelassen. Die Stefansbrücke war zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr da. Nicht ahnend, was der Fluss zu diesem Zeitpunkt bereits an anderer Stelle des Dorfs angerichtet hatte und weiter anrichtete, legten sie sich schlafen. Ein Nachbar war es, der ihnen am nächsten Morgen die Hiobsbotschaft überbrachte: „Wart ihr mal im Dorf? Da ist alles kaputt!“

Sabine Jüngling bei Aufräumarbeiten.
Sabine Jüngling bei Aufräumarbeiten.
Foto: privat

„Es war so unwirklich“, erzählt Sabine Jüngling. Das Ausmaß der Zerstörung schockierte. Doch zum Glück waren nicht alle Häuser von der Flutwelle betroffen. Auch das Hotel Schäfer, das die Familie ihres Lebensgefährten betreibt, überstand die Unwetternacht unbeschadet. Inzwischen dient es als Notunterkunft, zuerst für die über Nacht obdachlos Gewordenen im Ort, jetzt auch für die Helfer. Noch hat nicht jeder Haushalt in Schuld wieder Strom. Gastronomen aus dem Dorf und der Umgebung, unter ihnen auch Volker Schaefer, unterstützen die Verpflegung der Dorfgemeinschaft und der Hilfskräfte.

Als die ersten Helfer im Dorf eintrafen, da wussten die Schulder noch gar nicht, dass sie bereits berühmt waren. Der ungewollte Ruhm hat bis heute angehalten – in aller Welt steht Schuld für das Ahrtal. Aber die Schulder wissen: Sie hatten mehr Glück als andere Gemeinden und Städte am Fluss, denn trotz all der großen Zerstörung haben sie keine Toten zu beklagen. Das vorherrschende Gefühl ist das, wenigstens in dieser Hinsicht noch mal davongekommen zu sein.

„Bei vielen merkt man, dass es erst mal sacken muss“, erzählt Sabine Jüngling. Wer selbst verschont wurde, hat zumindest Bekannte und Freunde im Ort, die stark getroffen wurden. Es sei ein komisches Gefühl, selbst alles unbeschadet überstanden zu haben und gleichzeitig das Leid vieler anderer in Schuld und der gesamten Ahrregion mit anschauen zu müssen. Jeden Morgen muss sie sich selbst erst mal daran erinnern, dass nichts mehr ist, wie es einmal war. „Du wachst auf wie immer. Dann machst du die Haustür auf und stehst wieder in dieser unwirklichen Welt“, so Jüngling.

Teile der hölzernen Stefansbrücke treiben während der Flutkatastrophe ab.
Teile der hölzernen Stefansbrücke treiben während der Flutkatastrophe ab.
Foto: privat

Der neue Alltag sei beschwerlicher, aber zu meistern. Vor allem die kaputten Wasserleitungen machen zu schaffen. Frischwasser muss in Eimern oder Kanistern herangeschafft werden. „Auch mit den Toiletten ist es schwierig“, erzählt sie. An einigen Stellen im Dorf wurden Dixi-Klos aufgestellt – nichts für Menschen mit schwacher Blase. Wer etwas zu essen möchte, geht zum Jugendheim neben der Kirche. Brauch- und Trinkwasserstationen sind mittlerweile an mehreren Orten im Dorf aufgestellt.

In der Kirche selbst werden die Sachspenden ausgegeben. „Das ist ein beeindruckendes Bild“, berichtet Sabine Jüngling: Die Kirchenbänke voller Klamotten, in der Ecke liegt das Spielzeug, und um den Altar herum stehen Kisten mit Hygieneartikeln. Die Hilfsbereitschaft ist groß, auch untereinander. „Da packt man an, wo es gerade gebraucht wird.“ Auf den Straßen ist aber Vorsicht angesagt. „Hier fährt alles irgendwie kreuz und quer“, so Jüngling. Panzer, die vielen Hubschrauber und das andauernde Piepen von Fahrzeugen machen ihrem jüngsten Sohn Mica Angst.

Einige, die alles verloren haben, sehen ihre Zukunft nicht mehr in Schuld und wollen ihre Häuser nicht wieder aufbauen. Im Moment aber wollen selbst die meisten von ihnen nicht weg hier. Sie möchten bleiben, wo sie sind, bei den Menschen, die das Gleiche wie sie erlebt haben. Jeder hat etwas zu erzählen und muss es auch loswerden. Ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl ist so entstanden. Auf der anderen Seite liegen manchmal auch die Nerven blank. Aber man sehe, dass es vorangeht im Dorf. „Was in dieser kurzen Zeit schon alles geschafft wurde, ist bemerkenswert“, betont sie. Und die Dankbarkeit darüber ist so groß wie die Hilfsbereitschaft, die den Schuldern in den vergangenen Tagen entgegengebracht wurde. Die von außen herangeschwappte Welle der Solidarität helfe ungemein. „Das gibt uns das Gefühl: Es kann weitergehen.“

Von unserer Mitarbeiterin Petra Ochs