Bad Neuenahr

Horrorszenario in der Villa Sibilla: Bewohnerin der Seniorenresidenz schildert Katastrophennacht

Von Inge Thoma
Auch die Residenz Villa Sibilla in Bad Neuenahr hat es in der Katastrophennacht schwer getroffen.  Foto: Jochen Tarrach
Auch die Residenz Villa Sibilla in Bad Neuenahr hat es in der Katastrophennacht schwer getroffen. Foto: Jochen Tarrach

Inge Thoma gehört zu den Gestrandeten aus der Seniorenresidenz Villa Sibilla in Bad Neuenahr und hat die Katastrophe vor Ort erlebt. Thoma veröffentlichte Kinderbücher und schreibt Kolumnen in der Burda-Zeitschrift „Mein schönes Land“ sowie Lyrik. Ihren Bericht hat sie für die Bewohner der Villa geschrieben. Wir dürfen den Bericht veröffentlichen:

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Seit Tagen war Tief „Bernd“ als Unheil bringend angekündigt worden. Der Dienstag kam und ging harmlos und weitgehend trocken. Ab Mittwochnachmittag regnete es. Die Ahr floss brav in dem ihr zugestandenen Bett. Noch abends nach 21 Uhr hielt sie sich an ihre Grenzen, führte allerdings in ihrer starken Strömung bereits jede Menge Treibgut mit sich, unter anderem ein großes Weinfass. Es wurde dunkel, der Regen hörte auf. Aus Sicherheitsgründen war die Tiefgarage der Villa am Nachmittag geräumt und die Autos auf den Mitarbeiterparkplatz „umquartiert“ worden. Tief „Bernd“ schien seine Schuldigkeit getan zu haben. Man begab sich beruhigt zu Bett ...

Gegen Mitternacht wurde es hell in unserem Schlafzimmer. Das Notlicht, von meinem Mann in einer Steckdose angebracht, signalisierte Stromausfall. Mein Mann füllte vorsorglich alle verfügbaren Behälter mit Wasser. Beunruhigt machte er sich das Internet zunutze und stieß auf die Aufzeichnungen der Pegelstände in Altenahr im Viertelstundenrhythmus. Jetzt wurde die Gefahr dokumentiert. Der Pegel stieg anfangs alle 15 Minuten um circa acht Zentimeter. Dann schneller, und er näherte sich beängstigend der Hochwassermarke von 2016 mit 3,71 Metern.

Ein zuckender Strahl der Taschenlampe machte uns Angst: Die Steine der gepflasterten Zufahrt unter unserem Fenster schienen in Bewegung geraten zu sein. Das Wasser schlich sich heran. Bei der Betrachtung des einzigen dort geparkten Autos bestätigte sich unsere bange Vermutung: Die Radkappen des Wagens standen bereits zur Hälfte unter Wasser. Bald kippte das Auto nach vorn und setzte sich wie von Geisterhand bewegt in Bewegung. Plötzlich leuchteten für kurze Zeit die Rücklichter auf wie ein rotes Hilfesignal in der Dunkelheit. Ein Blick auf den Pegel Altenahr machte uns spätestens klar: Jetzt ist Handeln angesagt! In der letzten Viertelstunde war das Wasser um 45 Zentimeter gestiegen und bereits weit über der Hochwassermarke von 2016.

Inge Thoma  Foto: privat
Inge Thoma
Foto: privat

Nun geschah vieles gleichzeitig in einem selbstlosen, engagierten Einsatz der wenigen in der Nacht verfügbaren Helfer. Der stellvertretende Direktor, Herr Peckart, nahm die unangenehme, aber lebensrettende Aufgabe auf sich, alle Bewohner des Parterre zu mobilisieren und die teilweise schon Schlafenden mehr oder weniger unsanft zu wecken und schnellstens in den Vielzweckraum Apollinaris im ersten Stock zu evakuieren. Die beiden Haustechniker, Herr Jüliger und Herr Caliskan, mussten die Glastür zur Tagespflege aufbrechen, verletzten sich dabei und wurden von mir bei Taschenlampenlicht notdürftig mit Pflastern verarztet. Das Wasser war nun rasend schnell gestiegen, und im Nachhinein war es eine großartige Rettungsaktion.

Im Apollinarisraum wurde die Sammelstation behelfsmäßig mit Kerzen beleuchtet. Zwei Liegen wurden von der Dachterrasse requiriert, Isomatten vom Gymnastikkurs organisiert. Man bemühte sich rührend um die „Gestrandeten“ und versuchte, ihnen die Notlage so erträglich wie möglich zu machen. Bewohner der oberen Etagen wie wir brachten Decken, Schokolade, Wasserflaschen und boten Sitzgelegenheiten und Sofas zum bequemeren Ausruhen an. Erschütterndes offenbarte sich bei einem Blick von der Galerie ins Foyer hinunter. Sozusagen vom Logenplatz schaute man auf ein Horrorszenario: In einer merkwürdig gespenstisch anmutenden Stimmung schwammen umeinander: Sessel, Tische, Blumenkübel, Rezeptionstheke in einem sinnlosen, zweckentfremdeten Geistertanz. Ein lehmig schlammiges Gelb hatte dem Treibgut die ehemaligen Farben genommen. Gelegentlich blubberte es an einer Stelle hoch aus den Katakomben der gefluteten Kellerräume. Über allem lag ein unangenehmer Gestank nach Öl und Benzin. Es wurde eine angespannte, hektische Nacht, in der keiner wagte, zur Ruhe zu kommen.

Das Tageslicht des Donnerstag führte uns das Ausmaß der Flutkatastrophe drastisch und schonungslos vor Augen. Zerstörung, wohin man blickte! Mit dem Morgen kamen viele zupackende Helfer, die zu überbrücken versuchten, was durch Strom- und Wasserausfall die Situation verschärfte. Sie kamen trotz zusammengebrochener Infrastruktur: keine Ahrbrücken mehr, keine befahrbare Straßen. Sie kamen in Gummistiefeln und Schuhen, denen man die Schlammschlacht ansah, die sie bewältigen mussten. Sie kamen mit ausreichendem Wasservorrat, mit Medikamenten und mit Zuspruch. Auch Herr Orth, einer der Eigentümer, erschien, bemüht um einen hoffnungsvollen Ausblick auf die Zukunft.

Ein chaotisches Zwischenspiel stand uns noch bevor: Die Horrorwarnung vor einer möglichen Flutwelle nach einem Dammbruch einer Talsperre führte zu einer äußerst mühsamen Räumung der ersten und zweiten Etage. Hier zeigte sich, welch hohen körperlichen Einsatz der Helfer der Transport der Gehbehinderten mit Rollatoren und Rollstühlen beim kompletten Ausfall der Fahrstühle abverlangte. Die Nachricht erwies sich als Fake, geboren in der Hektik und Panik einer Gerüchteküche. Der hervorragenden Organisation unserer Villa verdankten wir es, dass uns Busse auf unglaublichen Umwegen zu verschiedenen Hotels in Bonn brachten.

Fazit: Bei allen, teilweise immensen materiellen Verlusten – wir sind der Katastrophe dieses Jahrhunderthochwassers lebend entkommen und sind dankbar für die aufopfernde Hilfsbereitschaft so vieler Menschen für unsere Villa, unser Zuhause, in das wir so gerne zurückkehren möchten!

Anbei ein Beweis, dass unsere aktuelle Katastrophe durchaus nicht einmalig war: Schon im Jahr 1910 entstand nach einem Hochwasser ähnlichen Ausmaßes das folgende Gedicht von Raoul Albertz: „Fragt nicht, wie es gekommen war. Es war der Schreckenstag der Ahr. Die Ernte vernichtet, entblößt das Feld. Vom fruchtbaren Boden und nirgends Geld. Die Straßen verwüstet, im Schlamm das Grab. So blickst du auf die Ahr hinab. Und Trauer herrschet, bitt’re Not. Die Hilfe wird hier zum Gebot.