Helfermassen sind Abbild gelebter „Solidahrität“: Dankbare Anwohner und Hilfskräfte in gemeinsamer Mission vereint

Von Sandra Fischer
Mit omnipräsenten Schildern zeigen die Betroffenen ihre Dankbarkeit mit den vielen Hilfskräften, die aus ganz Deutschland angereist sind und tatkräftig mit anpacken.
Mit omnipräsenten Schildern zeigen die Betroffenen ihre Dankbarkeit mit den vielen Hilfskräften, die aus ganz Deutschland angereist sind und tatkräftig mit anpacken. Foto: Sascha Ditscher

Die Masse macht's“, bringt es ein Helfer auf den Punkt, der dreckverschmiert auf der Treppe eines zerstörten Hauses in Dernau eine kurze Verschnaufpause macht. Scharen von privaten Helfern waten in Regenponchos und Gummistiefeln durch Matsch, Trümmer und Schutt. Überall sind unterschiedliche Dialekte zu hören, die Menschen sind aus ganz Deutschland ins Katastrophengebiet gereist. Seelsorger aus Berlin sind darunter, aber auch Menschen aus München, Hamburg, Heidelberg oder Ostfriesland. Vereinzelt hört man sogar Englisch.

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Wie unendlich dankbar die betroffenen Menschen für diese Hilfe sind, zeigen nicht zuletzt die omnipräsenten „Danke“-Schilder. Und damit es den Helfern auch an nichts mangelt, haben sich wiederum andere auf die Versorgung der Einsatzkräfte spezialisiert. „Heute gibt's Gyros mit Reis“, ruft ein Feuerwehrmann und lädt alle helfenden Hände zum Essen ein. Ein paar Ecken weiter gibt's Würstchen, und von einem Bad Sobernheimer Handballverein sind sogar Mitglieder mit einem Pizzaofen, 150 Portionen Teig und einem Basilikumbäumchen angereist. „War ein bisschen schwierig, hier hinzukommen, hat viele Stunden gedauert, aber jetzt bleiben wir, bis der Teig alle ist“, erzählt einer der eifrigen Pizzabäcker und belegt die dampfende Teigware, die er gerade frisch aus dem Ofen zieht, mit ein paar Blättern Basilikum, bevor er sie einem dankbaren Helfer in die Hand drückt.

Mit Basilikumbäumchen angereist

Einen Pavillon weiter hat man das Gefühl, in der Außenstelle eines Baumarktes zu stehen: Besen, Eimer, Gummistiefel und noch viel mehr – so weit das Auge reicht. Alles Spenden von privat, Firmen oder Baumärkten. Die Ausrüstung kommt gelegen, denn nachdem ein willkommener kurzer Regen zumindest das Staubwüstenproblem beseitigt hat, waten die zahllosen Helfer wieder durch den Schlamm, bereit, dem nächsten Anwohner bei den schier nie enden wollenden Aufräumarbeiten zu helfen.

Wie beispielsweise Anja Maier und Alexander Marx, die mit Freunden aus Heidelberg anreisten, um übers Wochenende im zerstörten Ahrtal mit anzupacken. Untergekommen ist die Gruppe in einem Zeltlager oben auf der Höhe. Maiers T-Shirt trägt bezeichnenderweise die Aufschrift: „Andere haben Jobs, ich eine Mission.“ Und diese Mission wird sie – wenn möglich – auch am nächsten Wochenende wieder ins Katastrophengebiet führen. Dort gehen sie von Haus zu Haus und fragen, welche Hilfe benötigt wird. Meist der Klassiker: Schlamm und Dreck wegschippen.

Auch Frank Riewe aus Wehr hat die Flutkatastrophe nicht kaltgelassen. Durch eine WhatsApp-Gruppe zusammengekommen, packt er mit anderen Freiwilligen aus Andernach, Burgbrohl und Boppard dort an, wo Hilfe gebraucht wird. Fassungslos steht er im Chaos: „Das ist das Schlimmste, was ich je gesehen habe, wie nach einem Tsunami oder einer Bombe“, sagt er, holt sich schnell einen Kaffee und macht sich wieder daran, Decken, Teppiche und Holzböden zu entfernen. Doch nicht ohne vorher eine Lanze für die jüngere Generation zu brechen: „Die jungen Menschen werden sonst immer so an den Pranger gestellt, aber was die hier leisten, Respekt!“

Respekt und tiefe Dankbarkeit hat auch Christian Schrading, Wehrführer in Dernau und selbst Betroffener, für die unermüdlichen Helfer. „Mit was für einer Energie die dabei sind, und das ist wahrlich keine schöne Arbeit, Wahnsinn. Und so viele“, zeigt er sich begeistert. Er selbst musste sich in jener Schicksalsnacht über Fenster und Dächer zum Nachbarn retten. „Das Wasser kam so schnell. Wir sind erst in den ersten Stock, dann in den zweiten. Aber wir haben keinen Ausstieg aufs Dach, also haben wir das Nötigste gepackt und haben uns zum Nachbarn durchgeschlagen.“ Zu fünft haben sie dort von abends 23 Uhr bis zum nächsten Nachmittag ausgeharrt, den Wasserpegel immer im Blick. Ab 2 Uhr nachts gab es keine Telefonverbindung mehr, anhand des Kerzenscheins in den Häusern ringsrum habe man erkennen können, ob es die Nachbarn auch geschafft hatten. Jedes Kerzenlicht ein Mensch oder eine Familie, die sich vor den Fluten retten konnte.

Auch Hiltrud Weber aus Marienthal gehört zu den Glücklichen, die mit dem Leben davongekommen sind. Von ihrem Balkon aus habe sie das steigende Wasser beobachtet, aber niemals mit dem gerechnet, was noch kommen sollte. „2016 ist mir noch nicht mal der Keller vollgelaufen.“ Doch dieses Mal sollte es anders kommen. Als sie ihr Auto umparken will, wird der 70-Jährigen der Weg zurück abgeschnitten. Nachbarn wollen sie aufnehmen, aber ihre Tochter ist bereist informiert und holt sie ab. Bis Mitternacht stehen die beiden noch mit anderen Anwohnern auf der Höhe und können nicht glauben, was sich vor ihren Augen abspielt: „Die Hauptstraße stand komplett unter Wasser. Autos, Tanks, alles ist da vorbeigeschwommen. Teilweise hatten die Autos noch Licht an, und wir haben versucht, ranzukommen und zu schauen, ob da noch Leute drin sind und gerettet werden müssen.“ Als sie am nächsten Tag nach Marienthal zurückkehrt, denkt sie noch „Ach, so schlimm wird es wohl nicht sein“, doch schon von Weitem kann sie erkennen, dass das Wasser in ihrem Haus bis zum zweiten Stock steht. Nachbarn erzählen ihr von Helikoptern, die eine Familie mit Kind noch um 5 Uhr nachts und am nächsten Tag andere Anwohner von den Dächern gerettet haben. „Ich weiß nicht, ob ich hier noch leben will“, sagt Hiltrud Weber, während sie ihren Blick über den zerstörten Ort schweifen lässt. An einem Haus fehlt die komplette Vorderwand, die Zwischendecke ist weg, ein Bettgestell ragt halb raus, an der Wand hängt eine Collage mit Familienbildern aus glücklichen Zeiten.

Weber wohnt zurzeit bei einer Freundin, während Helfer ihr Haus von Dreck und Schlamm befreien. Trotzdem kommt die ältere Dame jeden Tag nach Marienthal, um zu „helfen, wo ich helfen kann“. Zum Beispiel in der Garage einer Anwohnerin, die nun zum „Dorfladen“ und zur Essensstation umfunktioniert wurde. Hier können sich die Anwohner und Helfer mit dem Nötigsten versorgen und bekommen leckere Brötchen von Hiltrud Weber geschmiert.

„Wir leben von Minute zu Minute“, berichtet eine Betroffene, die gerade einem Helfer, der etwas ins Auge bekommen hat, Tropfen verabreicht. „Hier ändert sich ständig alles, wir haben keine Beständigkeit. Meistens gibt es Essenlieferungen, manchmal aber auch nicht. Einen Tag haben wir Duschen, dann wieder nicht.“ Um das ganze Chaos besser zu organisieren, treffen sich die Anwohner jeden Abend um 19 Uhr zur Lagebesprechung. Dort wird Bestandaufnahme gemacht, wer was wo braucht: Wie viele Helfer, was für Maschinen et cetera. Die Anwohnerin selbst lebt im Moment auf dem Dachboden, bis ihr Haus wieder bewohnbar ist.

Wie hart im Nehmen die meisten sind, wird klar, als ein Zimmermann mit breitem Lächeln auf einen DRK-Wagen in Dernau zusteuert. Sein Kopf ist bandagiert, Rinnsale von getrocknetem Blut sind auf seinen Wangen zu erkennen. „Ich hab nichts, ich will so schnell wie möglich wieder helfen“, beteuert der 62-Jährige immer wieder, als ihn die Rettungskräfte zur nächsten ärztlichen Versorgung schicken. Bei Aufräumarbeiten sei ihm ein Balken auf den Kopf gefallen. „Mist, jetzt hat der Hut ein Loch“, murmelt er, als er sieht, dass der Nagel, der sich im Balken befand, nicht nur für die Blutrinnsale am Kopf sorgte, sondern auch Spuren an seiner Kopfbedeckung hinterlassen hat. „Ich bin in meiner beruflichen Karriere schon zweimal vom Dach gefallen und hab das auch überlebt, ich hab halt einen Schutzengel“, meint der hartgesottene Handwerker lachend, und kaum ist das Blut abgewaschen und die Wunde versorgt, ist er schon wieder auf dem Weg zu den Aufräumarbeiten: „Ich hab doch nichts.“

Flut legt auch Granate frei

Inzwischen ist es früher Abend in Marienthal und Dernau. Der kurze Regen hat die Staubwüste zwar beseitigt, aber wieder für Matsch und Schlamm gesorgt. Der hat auch vor dem Friedhof nicht haltgemacht. Mit Schaufeln und einem kleinen Bagger legen die Freiwilligen die Gräber wieder frei, die mit einer Schlammschicht überzogen sind, und setzten sie – so gut es geht – wieder intakt. Grabornamente wie Lichter und Deko sind überall verstreut. Sogar ein Rahmen mit Bienenwaben findet sich auf einem Haufen. „Das Wasser hat vieles nach oben gebracht, was bei manchen Leuten seit 30 oder 40 Jahren im Keller lag“, berichtet ein Helfer. Dazu gehört neben längst verbotenen Pflanzenschutzmitteln auch eine Granate, die wohl noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammt.

Weniger brisantes „Schlammgut“ sind hingegen die zahlreichen Weinflaschen, die in dem Weinort den Fluten zum Opfer gefallen sind. Als sich die drückend-schwüle Sonne abends langsam über dem Ahrtal senkt und hinter den meisten Helfern zahlreiche Stunden schwerer körperlicher Arbeit und mentaler Belastung liegen, sieht man immer wieder kleine Grüppchen, die sich nicht nur das wohlverdiente Abendessen schmecken lassen, sondern auch die ein oder andere verschlammte Flasche sauber machen und sich ein Feierabendschlückchen gönnen. Ein paar Meter weiter holen sich erschöpfte Hilfskräfte in einem Campingvan eine Mütze Schlaf, bevor sie wieder durchstarten: Die Masse macht's! Gelebte Solidarität, oder besser gesagt „Solidahrität“.

Sandra Fischer