Bad Neuenahr

Gegen das Vergessen: Eine Selbsthilfegruppe zum Lesen

Von Sandra Fischer
Julian Dela aus Heppingen ist selbst Betroffener der Flutkatastrophe. Nun sammelt er Geschichten anderer Flutopfer für ein Buchprojekt, das spätens Ende November/Anfang Dezember erscheinen soll.  Foto: Sandra Fischer
Julian Dela aus Heppingen ist selbst Betroffener der Flutkatastrophe. Nun sammelt er Geschichten anderer Flutopfer für ein Buchprojekt, das spätens Ende November/Anfang Dezember erscheinen soll. Foto: Sandra Fischer

Eine Selbsthilfegruppe zum Lesen, eine Sammlung gegen das Vergessen und ein Zeugnis für die Nachwelt – all das soll das Buchprojekt sein, dass Julian Dela als Dokumentation der Flutkatastrophe im Ahrtal begonnen hat. Der 36-Jährige ist selbst betroffen und hat die schicksalhafte Nacht in Heppingen mit Frau, Kleinkind, Hund und dem Vermieter auf dem Dach verbracht.

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„Seltsame“ Geräusche waren es, die den Familienvater gegen 23 Uhr am Einschlafen hinderten. „Wie entfernte Baggergeräusche, blechern, metallisch“. Ein Check mit der Handytaschenlampe ergibt: das angekündigte Hochwasser steht bereits im Garten. Schnell packen Dela und Frau Mariana ein paar Sachen zusammen und bringen sich mit der knapp zweijährigen Tochter Leyla und Chihuahua Maya beim Vermieter im ersten Stock in Sicherheit. Doch der stetig steigende Pegel verlangt eine höher gelegene Rückzugsstätte – das Flachdach. Es ist 1 Uhr morgens, als die Gruppe über zwei aufeinandergestapelte Tische plus eine Leiter von der Terrasse aus auf das rettende Dach gelangt – wo sie die nächsten sieben Stunden verbringen sollte. Immer in der Angst, dass das Wasser noch weiter steigt und das Dach überspült. „Wir haben uns am Nachbarhaus einen Fixpunkt gesucht und immer wieder mit der Taschenlampe geleuchtet und den Pegel im Blick behalten. Wir konnten nur warten“, beschreibt Julian Dela die furchtbarsten Stunden seines Lebens.

Hilfeschreie waren am schlimmsten

„Am schlimmsten waren die Hilfeschreie der Nachbarn. Einer schrie ,Hilfe, ich kann nicht schwimmen.' Aber wir konnten ja nicht helfen, wir waren ja selbst gefangen. Ich weiß nicht, was schlimmer war – die Schreie, oder als sie aufgehört haben ...“, berichtet der Familienvater mit leiser Stimme. Tage später sollte er erfahren, dass die Nachbarn weggespült und weiter entfernt gefunden wurden. Doch jede Hilfe kam zu spät.

Auf dem Flachdach hatten sich Dela und sein Vermieter indes einen Back-up-Plan zurechtgelegt, falls das Wasser noch weiter steigen sollte. Am Nachbarhaus, dessen Giebel zwei Meter höher war als ihr jetziger Standpunkt, hatten sie prophylaktisch schon mal die Dachpfannen entfernt, um zur Not höher klettern zu können. Doch dazu sollte es nicht kommen. Rund ein Meter unter dem Flachdach kam das Wasser endlich zum Stillstand. Auch Wochen nach der Katastrophe ist sich Dela sicher, dass er den in dieser Nacht omnipräsenten, beißenden Heizöl- und Dieselgeruch der vorbeischwimmenden Tanks sein Leben lang nicht vergessen wird: „Das wird mich immer triggern und Erinnerungen hervorrufen und Wasserrauschen, das hör' ich auch nicht mehr gern.“

Auch wenn die junge Familie wie viele andere auch alles verloren hat, hat sie noch Glück im Unglück gehabt: Sie hat eine Hausrats- und Elementarversicherung und konnte erst einmal bei Delas Eltern in Bad Neuenahr unterkommen. Um denen, die die Jahrhundertflut wesentlich härter getroffen hat, einen Lichtblick zu geben, möchte Julian Dela, der hauptberuflich als Drehbuchautor arbeitet und schon immer eine Affinität zum Schreiben hatte, ein „respekt- und würdevolles Buch über die Betroffenen des Ahrtals schreiben“, wie er auf der eigens eingerichteten Facebook-Seite „We ahr here – Flutgeschichten“ beschreibt. Ihn interessiert dabei besonders, was den betroffenen Menschen in einer solchen Ausnahmesituation Hoffnung, Mut und Zuversicht gibt, was sie weitermachen und nach vorne schauen lässt, was sie Positives mitnehmen und wie sie lernen, mit dem Erlebten umzugehen.

Zum Thema Positives fällt Dela spontan die unbeschreibliche Solidarität ein, die „zu Tränen rührt“: „Völlig fremde Menschen stehen in Gummistiefeln vor dir und fragen, wie sie dir helfen können.“ Gerade in einer Gesellschaft, die gefühlt „kühl und distanziert“ geworden sei und wo man nicht so aufeinander achte, schweiße dieses Hand-in-Hand-Arbeiten zusammen, Skepsis und Zweifel anderen gegenüber seien plötzlich weg, so Delas Beobachtungen: „Ich würde mir wünschen, dass wir dies auch so beibehalten.“

Gewinn geht an Betroffene

Seinem Aufruf auf Facebook seien schon ein paar Betroffene gefolgt, nun hofft Julian Dela, dass weitere Menschen ihm ihre Geschichte für das Buchprojekt anvertrauen. Der Drehbuchautor hat bis Oktober Produktionspause und dementsprechend Zeit, dieses Herzensprojekt zu verwirklichen. Das Buch soll im Selbstverlag erscheinen, und zwar spätestens Ende November/Anfang Dezember. Der Gewinn wird an Betroffene gespendet, an Menschen, die durch die Flut vor dem Nichts stehen. Denn für sie soll dieses Buch geschrieben werden, als Selbsthilfegruppe zum Lesen, als Lichtblick in der Not und vor allem als Zeugnis gegen das Vergessen.

Von unserer Mitarbeiterin Sandra Fischer

Kontakt zum Autor

Wer Julian Dela seine Flutgeschichte für das geplante Buchprojekt erzählen möchte, kann unter der eigens eingerichteten E-Mail-Adresse deine-flutgeschichte@web.de Kontakt mit ihm aufnehmen oder über die von ihm kreierte Facebook-Seite „We ahr here – Flutgeschichten“.

Flutkatastrophe im Ahrtal
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