Kreis Ahrweiler

Die Flutkatastrophe und die Folgen für Kinder und Jugendliche: Eine Psychotherapeutin berichtet

Von Annika Wilhelm
Auch viele Kinder und Jugendliche haben den Tsunami im Ahrtal und die Folgen der Flutkatastrophe erlebt, teils ihr Zuhause und vielleicht sogar Familienmitglieder, Bekannte und Freunde verloren.
Auch viele Kinder und Jugendliche haben den Tsunami im Ahrtal und die Folgen der Flutkatastrophe erlebt, teils ihr Zuhause und vielleicht sogar Familienmitglieder, Bekannte und Freunde verloren. Foto: Uwe Süflohn

Kinder, die in den Hochwassergebieten leben, haben Bilder gesehen, die sie so schnell nicht mehr loslassen können. Doch wie gehen Kinder eigentlich damit um, und was ist jetzt wichtig? Die RZ hat mit Daniela Lempertz gesprochen, einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus Unkel. Sie fährt in die betroffene Region und unterstützt Kinder und Familien dabei, mit der Situation umzugehen und zu realisieren, dass die akute Gefahr vorbei ist, dass sie sich wieder im Hier und Jetzt orientieren können.

Lesezeit: 6 Minuten
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Ist die Nachfrage nach Kinder- und Jugendpsychologen im Ahrtal schon da?

Wir haben gleich an dem Freitag nach dem Unglück das Netzwerk „Soforthilfe Psyche“ gegründet. Seit über einer Woche sind wir in den betroffenen Gebieten und sprechen mit Betroffenen, Eltern und Kindern. In Grundschulen, Pfarrsälen oder Kirchen haben wir schnell Ansprechpartner gefunden, und von dort wurden Personen an uns verwiesen: Unter anderem auch Kinder, die nicht mehr schlafen können. Manchmal sitzen wir auch einfach an Treffpunkten, wo in Gesprächen deutlich wird, dass Leute Hilfe brauchen.

Gehen Kinder mit solchen Katastrophen anders um als Erwachsene?

Alle Menschen, die jetzt diese Flutkatastrophe erlebt haben, ob groß oder klein, ob sie selbst betroffen waren oder als Zeugen, haben aus psychotraumatologischer Sicht ein Trauma erlebt. Das ist eine starke Erschütterung des Selbstbildes, bei der man gar nicht genügend Bewältigungsmöglichkeiten hat, das Erlebte im Moment zu verarbeiten und zu verstehen. Kinder sind noch auf einer anderen Entwicklungsstufe als Erwachsene. Das Alter und die noch nicht abgeschlossene Hirnreife spielen dabei eine große Rolle. Das heißt, sie können das, was passiert ist, weder so verstehen noch so verarbeiten wie Erwachsene, und deshalb ist es für Kinder eine noch größere Überwältigung.

Was passiert mit Kindern, wenn sie gesehen haben, wie das Hochwasser ihr Zuhause überflutet hat, wenn Familienmitglieder vermisst sind und Menschen in den Fluten ertrunken sind?

Wenn man so etwas sieht, dann ist man erst mal erschrocken. Dabei passieren dann verschiedene Abläufe im Gehirn und Körper. Es werden Stresshormone freigesetzt, und die Reaktion von Kindern ist dabei ganz unterschiedlich. Das Erleben einer solchen Katastrophe sorgt dafür, dass unser Alarmsystem im Gehirn anspringt und dadurch praktisch in einen Dauererregungszustand geraten kann. Das kann auch zu einer Übererregung im Körper führen. Es kann sein, dass das Kind unruhiger und zappliger ist, gar nicht mehr ruhig sitzen kann oder sich auch innerlich unruhig fühlt. Kinder zeigen nach solchen Katastrophen häufig Klammerverhalten, weil das Gefahr- und Bindungshormon aktiviert wird und sie Schutz suchen. Es können Intrusionen auftreten, das heißt, dass Betroffene plötzlich das Gefühl haben, dass das Wasser wiederkommt oder dass sie etwas ganz Lautes hören oder auch, sobald sie die Augen schließen, Bilder der Ereignisse sehen. Diese Intrusionen können alle Sinne betreffen, das Hören, Riechen, Sehen und auch Schmecken. Momentan riecht es durch die Zerstörung und Aufräumarbeiten für viele Menschen nach Öl oder Benzin. Es gibt Menschen, die sagen, dass sie diesen Geruch gar nicht mehr aus ihrer Nase bekommen. Wir geben dann Tipps und erste Hilfestellungen, was diese Menschen tun können, damit die Intrusionen weniger werden und sich auflösen können.

Psychotherapeutin Daniela Lempertz
Psychotherapeutin Daniela Lempertz
Foto: privat

Wie bewältigen Kinder so einen Katastrophenzustand?

Manche Kinder sind in der ersten Zeit anhänglich und werden ganz still. Als Bezugsperson hat man dann oft das Gefühl, dass die Jüngsten endlich mal darüber reden müssen. Das müssen sie aber nicht, sondern das sollen sie nach ihrem eigenen Bedürfnis und in ihrem eigenen Tempo machen. Wenn sie etwas erzählen wollen, ist das okay. Danach soll wieder eine Reorientierung in den Alltag erfolgen. Wenn die Kinder spielen oder Alltagstätigkeiten wiederaufnehmen wollen, dann ist das hilfreich. Manche Kinder fangen plötzlich an, ganz viel darüber zu erzählen. Falls ein Kind dabei keine eigene Grenze findet und sich in den Schilderungen „verliert“, muss man es ganz behutsam begrenzen. Manche Kinder wollen viel malen, und es ist gut, dass sie das darüber ausdrücken können. Aber auch da ist es wichtig, dass man als Bezugsperson sehr achtsam dabei ist. Wenn ein Kind sich in so einem Bild verliert und thematisch „steckenbleibt“, ist auch hier ein Zurückholen in die Gegenwart wichtig. Man kann sich das vorstellen wie ein Pendel zwischen den Netzwerken im Gehirn. Es gibt das aktuell aktive Traumanetzwerk und das Ressourcennetzwerk. Das sind alle Fähigkeiten, die wir haben, unsere guten Beziehungen, der Alltag. Ein Pendeln zwischen diesen Netzwerken führt schrittweise zur Verarbeitung und Integration der belastenden Erfahrungen und schließlich zu einer Neuorientierung, zu einem Leben nach der Katastrophe.

Gibt es besondere Möglichkeiten, betroffenen Kindern zu helfen und sie zu unterstützen? Was ist jetzt wichtig?

Zeit und Zuwendung. Man will als Eltern eigentlich immer, dass es dem eigenen Kind gut geht und dass eine Belastung ganz schnell wieder weg ist. Hier kann man das aber nicht so schnell machen, das braucht einfach Zeit. Zuwendung sollte atmosphärisch da sein, aber auch körperlich. Also, dass man zum Beispiel mehr kuschelt oder knuddelt, wenn das Kind das möchte. Jetzt in den ersten Wochen ist auch nicht die Zeit für hohe pädagogische Anforderungen. Es kann nämlich sein, dass Kinder jetzt Entwicklungsrückschritte oder Entwicklungsstillstände haben. Zum Beispiel, wenn sie mal ihre Schuhe anziehen und zubinden konnten, kann es sein, dass das im Moment nicht funktioniert, weil das Gehirn immer noch im Übererregungszustand, also im Überlebensmodus ist, und dazu braucht man nicht die Fähigkeit, eine Schleife zu binden. Es kann auch sein, dass Kinder, die vorher gut und viel gesprochen haben, plötzlich nicht mehr sprechen.

Oder dass Kinder, die schon mal trocken waren, sich wieder einnässen. Es ist wichtig, dass Bezugspersonen jetzt achtsam und rücksichtsvoll damit umgehen. Diese Entwicklungsstillstände und -rückschritte werden wieder aufgeholt, sobald diese Übererregung sich gesetzt hat. Auch wichtig ist es, mit Kindern an Orte zu gehen, die entspannend sind und kleine Auszeiten ermöglichen. Zum Beispiel mal aus dem Ahrtal rauszufahren, dass das Kind andere Bilder sieht und nicht nur Zerstörung und Menschen, die voller Matsch sind, weil sie den Schlamm wegschippen. Wenn Großeltern das Kind zu sich nehmen möchten, um es aus dem Chaos rauszuholen, dann muss man gucken, ob das Kind das überhaupt möchte. Viele Kinder möchten in solch unsicheren Zeiten lieber bei Papa und Mama bleiben. Dann wäre es eine gute Möglichkeit, wenn die Großeltern sich irgendwo in der Nähe eine Ferienwohnung anmieten und mit den Kindern Ausflüge machen, zum Beispiel auf einen Ponyhof.

Worauf müssen die Eltern und auch die Umgebung jetzt achten, wo es für die Kinder keinen geregelten Alltag mehr gibt und sie teilweise kein gewohntes Zuhause mehr haben?

Die Eltern müssen immer einen Schritt zurückgehen und aus einer Metaperspektive auf ihr Kind schauen: Wie geht es meinem Kind eigentlich gerade? Was braucht mein Kind gerade? Es gibt Kinder, die sehr expressiv sind. Sie weinen viel oder werden schneller wütend, weil sie emotional gerade sehr instabil sind. Aber es gibt auch Kinder, die ganz ruhig sind. Manche Kinder sind sogar so ruhig, dass man sie als „frozen child“ bezeichnet – also eingefrorene Kinder. Sie sitzen zum Beispiel den ganzen Vormittag in einer Ecke. Von außen sieht es so aus, als würden sie spielen, aber innerlich sind sie wie in einer Trance oder haben einen Gegenstand in der Hand, sind aber in der Handlung und auch im Gefühl eingefroren. Sie wirken teilnahmslos, und diese Kinder muss man dann sanft und behutsam auch wieder da rausnehmen, weil das eben auch eine Traumafolgestörung ist.

Was sind die kurz- und auch langfristigen psychischen Folgen eines Ereignisses wie das Hochwasser im Ahrtal für Kinder?

Für Kinder das Gleiche wie für Erwachsene: mögliche Traumafolgestörungen. In den ersten vier Wochen bezeichnet man das als eine akute Belastungsreaktion mit all den genannten Symptomen. Die gleichen Symptome können aber auch anhalten oder stärker werden, und dann spricht man von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das ist eine verzögerte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder auf Lebensgefahr. Unter Umständen kann sich das erst nach Wochen oder Monaten entwickeln. Menschen bekommen plötzlich Albträume oder werden enorm schreckhaft. Man muss dann die Symptome mit dem, was man erlebt hat, übereinanderschieben und das in einen Kontext bringen. Und hier setzen wir, das Netzwerk „Soforthilfe Psyche“, mit unserer Arbeit an. Wir bieten Gespräche an und möchten dabei diejenigen identifizieren, denen jetzt sofort oder in den nächsten Tagen der Kontakt zu einem niedergelassenen Psychotherapeuten vermittelt werden sollte.

Das Gespräch führte Annika Wilhelm

Notfalltelefon für Kinder und Jugendliche

Die Flutkatastrophe im Landkreis Ahrweiler und im südlichen Nordrhein-Westfalen hat die Menschen schwer getroffen.

Insbesondere Kinder und Jugendliche leiden unter der aktuellen Situation und benötigen gezielte professionelle Hilfe. Daher hat das Johanniter-Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie Neuwied unter der Leitung von Chefärztin Dr. Brigitte Pollitt ein Notfalltelefon für traumatisierte Kinder und Jugendliche eingerichtet.

Während die Einsatzkräfte der verschiedenen Hilfsorganisationen in die Rettungs- und Aufräumarbeiten eingebunden sind, nutzt das Johanniter-Zentrum in Neuwied seine Ressourcen und die bestehenden Netzwerke, um langfristig Hilfe anzubieten und weiterzuentwickeln.

Das trägerübergreifende Projekt wird unter anderem von der DRK-Fachklinik Bad Neuenahr-Ahrweiler unter der Leitung von Dr. Holtkamp, der Johanniter-Tagesklinik Koblenz und von den Fachärztinnen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und – psychotherapie Dr. Johanna Schmitz vom Johanniter-MVZ Dieblich, Dr. Beate Kröber, Remagen, Dr. Karin Boeder, Adenau, sowie von dem selbst vom Hochwasser betroffenen Johanniter-MVZ Sinzig unterstützt.

Aktuell stehen noch viele der Betroffenen unter Schock, doch sobald dieser weicht, müssen die Möglichkeiten der Hilfe zugänglich sein.

Daher wird das Traumatelefon den lokalen Hilfekoordinierungsstellen des Kreises Ahrweiler, der Kassenärztlichen Vereinigung und dem Land Rheinland-Pfalz angezeigt und in den sozialen Netzwerken geteilt. Aktuell sind über die Kanäle bereits 7500 Menschen aus der betroffenen Region informiert worden.

Das Traumatelefon ist unter der Telefonnummer 0261/204.042 50 montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr erreichbar.

Flutkatastrophe im Ahrtal
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