Ahrtal

Damit der Schock nicht bleibt: Hunderte Seelsorger am Telefon und entlang der Ahr tätig

Von Tim Saynisch
Symbolbild.
Symbolbild. Foto: dpa

Rauschende Wassermassen, haushohe Schuttberge, Leichen, das wiederkehrende Wummern von Militärhubschraubern und das unentwegte Flackern von Blaulicht in dem Ort, den man einmal mit dem Wort Heimat beschrieben hat: Dies sind nur Beispiele für eine Fülle von Eindrücken, mit denen die Menschen an der Ahr konfrontiert wurden und von denen Bianca van der Heyden, Landespfarrerin für Notfallseelsorge der evangelischen Kirche im Rheinland sagt, dass sie „Traumapotenzial“ haben. Genau dort setzen die Helfer der psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) an, die momentan, gut erkennbar an ihren lila Westen, im Katastrophengebiet unterwegs sind.

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Etwa 300 sollen es laut Thomas Linnertz, Leiter des Krisenstabes des Landes und Präsident der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD), sein. Sie sind im Einsatz, damit das Ahrtal nicht nur physisch sondern auch mental wieder auf die Beine kommen kann.

„Wir kommen als Nicht-Betroffene in das Katastrophengebiet“, sagt Bianca van der Heyden, was allerdings nicht bedeutet, dass das Erlebte vor Ort die Helfer nicht betroffen macht. „Natürlich geht die Situation auch uns nahe, aber dafür sind unsere Helfer ausgebildet“, bleibt die Landespfarrerin sachlich. Warum ihre Mitarbeiter derzeit unersetzlich sind? „Das Grundvertrauen und das Urvertrauen der Anwohner sind erschüttert. Am Mittwoch war noch alles normal und von jetzt auf gleich liegt alles darnieder.“ Dass plötzlich alles, wie das eigene Dach über dem Kopf, auf das man immer vertraut hat, weg ist, habe großes Traumapotenzial, berichtet van der Heyden, die am Samstag selbst in Bad Neuenahr-Ahrweiler war.

Wo sie gerade am nötigsten gebraucht werden, erfahren die Notfallseelsorger vom Leitungsstab des Landes. „Obwohl wir ja kirchlich und nicht staatlich sind, funktionieren wir dann wie Einsatzkräfte und ordnen uns in die Situation ein“, erklärt van der Heyden.

Von Ehrenwall'sche Klinik hilft am Telefon und an Ort und Stelle

In diese Einsatzkette reihen sich auch Psychologen der Dr. von Ehrenwall'schen Klinik in der Kreisstadt ein, deren Gebäude von der Flutwelle stark beschädigt wurden. Die Klinik ist als Traumazentrum auf die Behandlung von akuten Belastungsstörungen spezialisiert und behandelte in der Vergangenheit beispielsweise Bundeswehr-Rückkehrer aus Afghanistan oder Opfer von Geiselnahmen bei Banküberfällen. „Unsere momentane Arbeit zielt vor allem auf die Prävention von posttraumatischen Belastungsstörungen ab“, erklärt Markus Schmitt, Leitender Psychologe der Klinik, seine Aufgabe und die seiner Kollegen im Ahrtal.

Dass die Flutkatastrophe schwere psychische Folgen für die Betroffenen haben kann, erklärt Schmitt mit der Ohnmacht, die die Menschen erleben mussten: „Nicht das augenscheinliche Desaster löst posttraumatische Störungen aus, sondern die Ohnmachtserfahrung der Menschen. Tausende, die überlebt haben, wurden Zeugen von Menschen, denen sie nicht helfen konnten.“ Diese Zeugensituation innerhalb der eigenen Opferrolle hätten „die Menschen kilometerweit erlebt. Wir sprechen hier womöglich von der bisher geologisch größten Katastrophe in Deutschland“, macht Schmitt die Tragweite des Ereignisses deutlich und erklärt anhand eines Beispiels, dass nicht nur direkt Betroffene Traumata davontragen könnten: „Wir betreuen auch die DRK-Leitstelle in Koblenz. Die Helfer dort hatten über einen Zeitraum von mehreren Stunden im 30-Sekunden-Takt Menschen an der Strippe, die Anderen nicht helfen konnten. Auch sie waren in ihrer Rolle ohnmächtig, mussten oft eine Art Sterbebegleitung leisten.“

Viele Psychologen der beschädigten Dr. von Ehrenwall
Viele Psychologen der beschädigten Dr. von Ehrenwall'schen Klinik in der Kreisstadt sind jetzt im Notfalleinsatz am Telefon.
Foto: Uwe Sülflohn

Damit das Risiko minimiert wird, dass die Betroffenen eine posttraumatische Belastungsstörung davontragen, gilt es, keine Zeit zu vergeuden. „Jetzt folgt die Phase des Realisierens, bei der erste Symptome ausbrechen können“, erklärt Schmitt. Der Psychologe berichtet von Betroffenen, „die nachts Sirenen hören, Wasserfluten, die nicht da sind oder schreiende Menschen.“

Um möglichst viele Menschen schnell betreuen zu können, haben Schmitt und seine Kollegen gemeinsam mit dem Eichenberg Institut in Koblenz eine Betreuungshotline eingerichtet, die durch die Krankenkasse IKK gesponsert wird. 17 Experten für Psychotraumatologie stehen für die Beratung bereit. Man arbeite in Wechselschichten, damit auch die Vor-Ort-Betreuung weitergehen kann, berichtet Schmitt. „Es ist klar kommuniziert, dass an der Hotline Psychologen der Dr. von Ehrenwall'schen Klinik und auch andere Kollegen sitzen. Alle weisen eine hohe Beratungskompetenz für akute Belastungsstörungen auf“, versichert Schmitt. Das Angebot richtet sich an unmittelbar Betroffene, deren Angehörige und Freunde, aber auch an ehrenamtliche Helfer und Einsatzkräfte. Da die Klinik in der Kreisstadt zerstört ist, arbeiten die Helfer dezentral in digitalen Büros – die technische Infrastruktur stellt das Eichenberg Institut.

Seelsorge findet auch in den Krankenhäusern statt

Neben Notfallseelsorge vor Ort und am Telefon gibt es auch Seelsorger, die in die Krankenhäuser der Region gehen, wie Pfarrer Manfried Rademacher, der Notfallseelsorger im evangelischen Kirchenkreis Koblenz ist. Am Freitag war der Geistliche im Krankenhaus in Remagen im Einsatz, wo viele Flutopfer stationär behandelt werden. Er sei dort meist auf Patienten getroffen „die gerettet worden sind, mit neuer Kleidung im Krankenhaus lagen, seelisch aber immer noch am Unglücksort waren.“

Rademacher berichtet von einer Frau, die verzweifelt auf der Suche nach Kontakt zu ihrem Sohn war. „Wenn man als Seelsorger weiß, dass der Sohn wahrscheinlich nicht mehr unter den Lebenden ist, dann muss man genau schauen, was sinnvoll ist, zu sagen, und wo man es auch einfach bei belassen muss“, ordnet der Geistliche die Situation ein.

Grundlegend versuchen Rademacher und seine Kollegen jedem Bedürftigen Gehör zu schenken. Beim Einsatz im Katastrophengebiet müssten die Notfallseelsorger aber auch priorisieren: „Wir gehen nicht an jeden Einzelnen heran, der sein Haus oder seine Wohnung verloren hat. Wir richten uns in der ersten Phase vor allem an Menschen, die hoffen, Angehörige noch wiederzufinden.“ Der Pfarrer ist sich sicher: „Ich glaube die große Trauerarbeit, nicht nur um Personen, sondern auch beispielsweise um das verlorene Haus, kommt noch.“

Auch Landespfarrerin Bianca van der Heyden geht davon aus, dass die eigentliche Arbeit erst noch ansteht. Um das Risiko von Traumata bei den Betroffenen zu minimieren, sei eine nahtlose Weiterbetreuung notwendig, wenn die Notfallseelsorger irgendwann abrücken. Außerdem sei es elementar, Perspektiven für die Zukunft aufzuzeigen: „Als ich am Samstag in Ahrweiler war, war da beispielsweise schon ein Mann von einer Versicherung, um Schäden zu dokumentieren. Allein dieser Umstand hat viele dazu bewegt, nach vorne zu schauen“, schildert die Landespfarrerin.

Niemand im Kreis Ahrweiler, der nach 1945 geboren ist, hat jemals eine solche Zerstörung vor der eigenen Haustür erlebt. Daher wird es wohl eine der großen Herausforderungen der kommenden Wochen sein, allen Betroffenen eine Therapie zu ermöglichen. Inwieweit die Zahl von rund 300 eingesetzten Notfallseelsorgern den aktuellen Bedarf im Krisengebiet deckt, konnte das zuständige Landesinnenministerium auf RZ-Anfrage bis Redaktionsschluss nicht mitteilen.

Hier finden Betroffene psychologische Hilfe

Psychologische Flut-Hilfe-Hotline der Dr. von Ehrenwall'schen Klinik in Ahrweiler: 0800/729 57 29; (Montag bis Freitag, von 8 bis 17 Uhr)

  • Hotline des Landes Rheinland-Pfalz für psychosoziale Unterstützung: 0800/001 02 18; (täglich, von 8 bis 20 Uhr)
  • Hotline des Landes Rheinland-Pfalz für psychologische Beratung und Vermittlung eines Therapieplatzes: 0800/575 87 67; (täglich, von 9 bis 16 Uhr)
  • Psychologische Akuthilfe-Hotline des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen: 0800/777 22 44; (Montag bis Freitag, von 16 bis 20 Uhr)
Flutkatastrophe im Ahrtal
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