Ahrtal/Buchholz

79-jähriges Flutopfer aus Bad Neuenahr findet temporäres Zuhause in Buchholz: „Schön, dass Du da bist, Elke!“

Von Sandra Fischer
Gruppenbild mit Kater Oskar: Flutopfer Elke Reis da Costa (2. von links), Tochter Sabine Rasenberger (links), Reiner Besgen und Alwine Schneider-Besgen freuen sich über den Einzug der 79-Jährigen in Buchholz.
Gruppenbild mit Kater Oskar: Flutopfer Elke Reis da Costa (2. von links), Tochter Sabine Rasenberger (links), Reiner Besgen und Alwine Schneider-Besgen freuen sich über den Einzug der 79-Jährigen in Buchholz. Foto: Sandra Fischer

"Elke, endlich biste da!“ Im breitesten kölschen Dialekt begrüßt Reiner Besgen freudestrahlend seine neue Mitbewohnerin. „Allein schon wegen des Dialekts zieh' ich hier ein“, scherzt die 79-jährige gebürtige Kölnerin, die sich mit dem Rollator den Weg durch das Wohnzimmer hin zur Essecke bahnt, wo schon Besgens Frau Alwine wartet.

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Berührt von der Flutkatastrophe im Ahrtal, hatten die Buchholzer beschlossen, eine Wohnung für Opfer des Hochwassers zur Verfügung zu stellen. „Wir haben die Bilder im Fernsehen gesehen und kennen die Ecke da sehr gut. Da waren wir überall schon mit dem Rad. Wir haben direkt gedacht, da könnte man doch was machen“. Gesagt, getan. Schon am Tag nach der Flut hängt sich Besgen ans Telefon, versucht rauszufinden, wie man die Wohnung am besten anbieten kann. Die offizielle Anlaufstelle in Ahrweiler zeigt sich erst begeistert: „Eine ganze Wohnung, fantastisch.“ Doch als sie erfahren, dass diese in Buchholz in der Verbandsgemeinde Asbach liegt, heißt es nur noch „Ach so, so weit weg. Wir melden uns wieder.“ Auf diesen Rückruf wartet Besgen noch heute. Also beschließt er, auf Facebook zu publizieren.

Doch entweder sind es ganze Familien, pflegebedürftige Menschen oder welche mit Hund, die Interesse zeigen, und diese scheiden leider aus. Denn die Wohnung, in der Alwine Schneider-Besgens Mutter bis zu ihrem Tod vor vier Jahren lebte, verfügt über lediglich ein Schlafzimmer, Küche, Bad und Wohnzimmer, das Ehepaar Besgen kann selbst nicht die Pflege älterer Menschen leisten, und Hunde kommen nicht infrage, da Kater Oskar im Haus das Sagen hat. Doch wie das Schicksal so will, sollte sich bald die ideale Kandidatin finden, wenn auch über Umwege, unter anderem über Schweden.

Denn auch Sabine Rasenberger, Tochter von Elke Reis da Costa, hatte auf Facebook in derselben Gruppe wie Besgen gepostet und eine Unterkunft für ihre Mutter gesucht. Doch aus unerklärlichen Gründen sehen weder Besgen noch sie die Anzeige des anderen. Eine findige Freundin von Rasenberger, die in Schweden lebt, stößt jedoch auf die Anzeige und schickt Rasenberger einen Screenshot: „Wär das nichts?“ Als diese die Adresse Buchholz liest, denkt sie, „so einen großen Zufall gibt es nicht, das muss Buchholz in der Nordheide sein“, nicht das Buchholz, in dessen Ortsteil Elles sie lebt.

Ein Blick in die zerstörte Wohnung zeigt, wie hoch das Wasser in der Wohnung stand.
Ein Blick in die zerstörte Wohnung zeigt, wie hoch das Wasser in der Wohnung stand.
Foto: privat

Doch der Zufall ist in der Tat so groß, und Rasenberger lebt nur wenige Hundert Meter von Familie Besgen entfernt. Nach einem humorvollen WhatsApp-Austausch und einem Besichtungs- und Kennenlerntermin ist man sich schnell einig: Elke zieht ein, bis sie eine endgültige Bleibe gefunden hat. Und zwar in der Nähe, denn die 79-Jährige, die neun Jahre nur 60 Meter von der Ahr in einem Vierfamilienhaus in Bad Neuenahr gelebt und sich dort sehr wohlgefühlt hat, will nicht mehr zurück. Zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an die Schicksalsnacht: „Es war die Hölle.“

Es ist 20.30 Uhr an jenem Mittwochabend, als Reis da Costa ihre Tochter anruft: „Ich hab Angst.“ Rasenberger versucht, ihre Mutter zu beruhigen: „Ach, das ist doch nichts.“ Doch nach ihrem Geschäftsessen um 22 Uhr ruft sie ihre Mutter an. Die Sorge sollte begründet sein. Am Telefon wird sie Zeuge, wie die Feuerwehr zum Umparken der Autos aufruft, Reis da Costa berichtet von Müllcontainern, die vorbeischwimmen. Schnell ist klar, das ist kein Hochwasser wie sonst. Rasenberger will zu ihrer Mutter, doch ein Durchkommen ist unmöglich. Selbst durchs Telefon kann sie das „Wahnsinnsbrausen“ hören. „Das klang, als wär meine Mutter an einem Wildwasserfluss.“

Gegen halb zwölf holt die Nachbarin aus dem ersten Stock die 79-Jährige zu sich hoch: „Komm mit, das Wasser kommt.“ Reis da Costa kann lediglich Handtasche und ihre Medikamente mitnehmen und das, was sie am Leib trägt: Jogginghose, Schlafhemd und Filzpantoffeln. Zu diesem Zeitpunkt steht der Keller bereits unter Wasser, zehn Minuten später sollte auch in ihrer Wohnung der Pegel bis zur Decke gehen. Rasenberger ist beruhigt, dass ihre Mutter bei den Nachbarn im ersten Stock erst mal gut betreut ist. Bald fallen jedoch Strom und Wasser aus: „Es war stockdunkel, überall nur Wasser, es war wie auf einer Insel, und immer dieses laute Rauschen – und die Hilferufe aus dem Dunkeln. Wir haben dann gerufen ,Wo sind Sie denn? Wir können nicht helfen.' Es war ganz schrecklich, wie in einem Horrorfilm“, erinnert sich Reis da Costa. Später sollte sich herausstellen, dass die Rufe aus dem Keller des Nachbarhauses kamen. Für die Hilferufenden kam jedoch jede Rettung zu spät. Eine Freundin der 79-Jährigen hatte mehr Glück, musste die Nacht allerdings auf der Türklinke stehend verbringen, das Wasser bis zum Hals. „Das kann man sich alles gar nicht vorstellen, wenn man es nicht miterlebt hat.“

Die mit Schlamm überzogenen Filzpantoffeln, in denen sich die 79-Jährige aus den Fluten rettete.
Die mit Schlamm überzogenen Filzpantoffeln, in denen sich die 79-Jährige aus den Fluten rettete.
Foto: privat

Als ab 1 Uhr auch das Handynetz zusammenbricht, versucht Rasenberger bis 4 Uhr verzweifelt, immer wieder Kontakt zu ihrer Mutter aufzunehmen. Sie schaut die Nachrichten, um auf dem neuesten Stand zu sein, und um 6 Uhr meldet sie ihre Mutter als vermisst. Diese hat in der Nacht kein Auge zugemacht. „Wir hatten solche Angst, das Wasser stand bis unter den Balkon. Und auf den Dachboden wäre ich über die Hühnerleiter nicht raufgekommen.“ Kaum ist es hell, will sie nach ihrer Wohnung sehen, doch noch immer ist an ein Durchkommen nicht zu denken. Bis 15 Zentimeter vor der ersten Etage ist das Wasser gestiegen, das Treppenhaus ist eine einzige Schlammlandschaft. In einer Baggerschaufel wird die 79-Jährige von den Rettungskräften aus dem Haus geborgen und zur DRK-Sammelstelle gebracht, wo es ein tränenreiches Wiedersehen mit ihrer Tochter gibt. „Da sind noch mal alle Dämme gebrochen“, erzählen die beiden, und schon kommen wieder die Tränen.

Beide sind froh, dass die Seniorin mit dem Leben davongekommen ist, aber materiell steht sie vor dem Nichts. „Alles ist kaputt, ich habe nichts mehr.“ Möbel, Kleidung, Auto, alles futsch. Noch nicht einmal Erinnerungsstücke wie die Hochzeitsbilder sind ihr geblieben. Oder die Tischdecke, die sie gerade stickte: „Daran habe ich zwei Jahre gearbeitet. Eine wunderschöne Decke, mit Bauernhaus, Storch und Blumen.“

Auch der Sparstrumpf in Form eines Umschlags mit 1300 Euro, die sich die Seniorin vom Mund abgespart hatte, wird Opfer der Fluten. Mit den bloßen Händen durchwühlt Rasenberger den Schlamm und kann wenigstens etwas Schmuck retten, Töpfe und Geschirr. Eine Freundin bringt zwei Säcke Kleidung vorbei, und dank eines PayPal-Spenden-kontos und eines Sponsors kann sich Reis da Costa ein gebrauchtes Elektromobil kaufen, da ihres noch immer im Schlamm im Garten steckt. „Die Hilfsbereitschaft ist einfach unglaublich“, stimmt auch ihre Tochter zu. Nun ist der nächste Schritt, eine permanente Wohnung für die Seniorin zu finden, damit diese endlich zur Ruhe kommen kann. „Wir sind einfach am Limit“, bekräftigt ihre Tochter, die die ehemalige Wohnung ihrer Mutter mit freiwilligen Helfern eine Woche lang täglich von 6 bis 22 Uhr entrümpelt und „besenrein“ hinterlassen hat. Der Mietvertrag ist gekündigt. Reis da Costa will Buchholzerin werden. Bis dahin genießt sie die Gastfreundschaft der Besgens, mit denen sie sich nicht nur wegen der kölschen Verbindung jetzt schon bestens versteht: „Wir kennen sogar dieselben Leute und haben schon ein bisschen Dorfklatsch abgehalten.“

Laut Kreisverwaltung Ahrweiler wird zurzeit an einer Plattform für eine Wohnungsbörse gearbeitet.