Ahrtal

Von der Nordsee an die Ahr: Zum Helfen gekommen, zum Leben geblieben

Von Sandra Fischer
Norbert (links) und Olli kamen an die Ahr und haben den Menschen geholfen - und sind geblieben. Foto: Jens Weber
Norbert (links) und Olli kamen an die Ahr und haben den Menschen geholfen - und sind geblieben. Foto: Jens Weber

Seit 1. Juli ist Norbert ein Ahrtaler. Er hat den Nordseestrand gegen das Ahrufer, die Deiche gegen Weinberge und seinen Helferstatus gegen eine Meldebescheinigung im Kreis Ahrweiler getauscht.

Lesezeit: 5 Minuten
Anzeige
Seit der dritten Woche nach der Flut ist der Koch aus Cuxhaven im Tal, hat Schlamm geschippt, Häuser entkernt und unzählige Mahlzeiten für Betroffene und Helfer zubereitet. Inzwischen hat er eine feste Wohnung, ist in ein Flut geschädigtes Haus gezogen, hilft der Besitzerin beim Wiederaufbau.

Hilfe wird dringend benötigt

Aus seinen täglichen Erfahrungen und Begegnungen weiß der 54-Jährige, dass auch ein Jahr nach der größten Naturkatastrophe der deutschen Nachkriegszeit noch dringend Hilfe benötigt wird. Während Anwohner, die kaum oder gar nicht betroffen sind, die Rückkehr in die Normalität propagieren, leben andere noch immer ohne Küche, ohne Waschmaschine, sind bei Familie oder Freunden untergekommen oder hausen temporär auf den wenigen nicht Flut geschädigten Quadratmetern höher gelegener Etagen.

Mit dem Aufruf des Videos erklären Sie sich einverstanden, dass Ihre Daten an YouTube übermittelt werden und Sie die Datenschutzerklärung gelesen haben.

Für sie ist das „normale Leben“ noch immer ein abstraktes Konstrukt in ferner Zukunft. Von Aussagen wie „Wir wollen endlich wieder unter uns sein“ getrieben, möchte Norbert mehr sein als „ein Helfer“, will raus aus der Schublade, wünscht sich ein Mitspracherecht, eine Stimme, will seiner Wahl-Heimat bedarfsgerecht und gezielt helfen. „Ich bin jetzt einer von Euch und werde für mich und andere in das Tal investieren“, so seine Botschaft.

Als die Flut in jener schicksalshaften Nacht vom 14. auf den 15. Juli in einer mörderischen Welle durch das Ahrtal prescht, gönnt sich Norbert gerade eine Auszeit. Nach dem Tod seines Vaters und langwierigen Erbabwicklungen will sich der 54-Jährige neu sortieren, plant für ein halbes Jahr mit dem Wohnmobil wegzufahren. Durch Videos von Markus Wipperführt wird er jedoch auf das Ausmaß der katastrophalen Flut aufmerksam, sieht das Leid, die Not, Menschen, die ihre komplette Existenz verloren haben.

„Ich hab‘ all das Elend gesehen und konnte einfach nicht untätig daheim rumsitzen“

Norbert

Vom Leben an der Küste ist Norbert Sturmfluten und Hochwasser gewohnt, doch die Art der Zerstörung, die sich in den Videos abzeichnet, diese brachiale Gewalt ist für ihn unvorstellbar. Schnell ist klar, „Das ist ‚ne ganz andere Hausnummer.“ „Da will ich hin“, kündigt er seinen Kindern an. Diese sind allerdings wegen seiner gesundheitlichen Probleme besorgt, bitten ihn, noch ein bisschen zu warten. Doch lange hält es den Cuxhavener nicht zu Hause, „ich hab‘ all das Elend gesehen und konnte einfach nicht untätig daheim rumsitzen“. Er packt Werkzeuge wie Axt und Säge, Dampfstrahler, Wathose, Zeltausrüstung sowie Appenzellerhündin Gaya ins Auto, erst auf der Autobahn informiert er seine Kinder, „ich bin dann mal los“. Ihre Antwort: „Das war ja klar.“

Nach acht Stunden Fahrt schlägt er in einem Weinberg in Heppingen sein Zelt auf, bietet am nächsten Morgen seine Hilfe im Ort an.

Psychisch und physisch durch

Norbert wird Teil der Eimerkette, stemmt Putz in Privathäusern, hilft, das Peter-Jörges-Gymnasium leer zu räumen und zu entkernen, schippt Schlamm, entrümpelt. Nach anderthalb bis zwei Wochen fährt er jedesmal für ein paar Tage nach Hause, ist psychisch und physisch durch. Doch lange hält er es nie in der Heimat aus, spätestens nach zwei Tagen wird das Auto wieder gepackt, es geht zurück gen Ahrtal, zu neuen Projekten. Der 54-Jährige bringt pflegebedürftigen Menschen Essen, ist viel mit Gaya unterwegs, setzt sich mit ihr zu Betroffenen, fragt nicht, lässt diese erzählen. Die Flutnacht ist unweigerlich Thema, fast jeder muss seine Geschichte loswerden, sich die dramatischen Ereignisse von der Seele reden.

Auch für Norbert ist das Ahrtal eine psychische Belastungsprobe. Als Helfer entsorgt er die materiellen Zeugen von Tausenden von Leben, auf der Straße liegend zu Müll degradiert. Die Zerstörung zieht sich wie eine offene Wunde durch das Tal, macht die eigene Mortalität deutlich. Der Schmerz und das Leid auf der einen, die grenzenlose Empathie auf der anderen Seite, setzen auch bei Norbert viele Emotionen frei, endlich kann er um seinen Vater trauern, verbringt als Atheist Stunden in einer Kapelle, schweigend im Schein einer flackernden Kerze.

Seine Helferevolution führt ihn schließlich zurück zu den Wurzeln, in die Küche. Erst ins Walporzheimer Versorgungszelt, wo er im Team mit Helfern und Betroffenen zwei Mal täglich 300 bis 400 warme Mahlzeiten zubereitet, später in die privat organisierte Versorgungsstation vor der Bachemer Don Bosco-Schule.

Auch als der Ruf nach Normalität immer lauter wird und Versorgungsstationen geschlossen werden, macht Norbert als Helfer weiter, sucht sich eine Wohnung, hilft privat. Desillusioniert von staatlicher Hilfe und angesichts des langwierigen und zähen Wiederaufbaus will er die Menschen nicht im Stich lassen, weiß, hier wird noch lange Hilfe benötigt. Ist überzeugt, nur wenn ich hier bin, dicht bei den Betroffenen, kann ich die Sorgen und Nöte mitbekommen, kann helfen. “Sobald man das Tal verlässt, ist man raus.” Nach der Wohnung hat er auch schon einen Job gefunden. Erst einmal stundenweise, um noch genügend Zeit zu haben, sich ehrenamtlich für seine Wahl-Heimat einzusetzen. Denn die Gemeinschaft, der Zusammenhalt, jene magische SolidAHRität der ersten Wochen und Monate, mit der viele Menschen gemeinsam viel erreichen können, ist immer noch da, ist Norbert überzeugt.

“Mir taten die Menschen einfach so leid, ich hab’ halt ein Helfersyndrom”

Olli

“Hilfe wird hier noch ganz lange gebraucht”, ist sich auch Olli sicher. Zehn Monate hat der gelernte Maler und Lackierer die private Versorgungsstation HangAHR21 geführt. “Am Montag must Du für die ganzen Leute kochen” – mit diesem Satz seines Mitbewohners, der bereits an Tag 3 im Tal eine Feldküche aufgebaut hatte, fing alles an. Seit Tag 6 sollte auch Olli dabei sein, nichtsahnend, dass der Platz neben dem Ahrweiler Freibad fortan sein neuer Lebensmittelpunkt und das Ahrtal bald seine neue Heimat werden sollten.

HangAHR-Schichten

“Mir taten die Menschen einfach so leid, ich hab’ halt ein Helfersyndrom”, erklärt der 50-jährige Bonner, der fortan seine HangAHR-Schichten in seinen eh schon ausgebuchten Berufsalltag einbaut. Oft kommt er erst nachts von Spätschichten nach Hause, holt schon wenige Stunden später frische Brötchen für die Frühstücksschicht. Auch vor der Flut hat Olli einen Bezug zum Ahrtal, besucht so manches Weinfest, mag die Mentalität der Bewohner, ihre offene, freundliche, familiäre und heimatbezogene Art. Seine Cousine wohnt in Mayschoß, ein Kumpel in Bad Neuenahr. Das Haus der Cousine weg, das des Kumpels abgesoffen. Olli unterstützt so gut er kann.

Auch der HangAHR21 wird im Mai geschlossen, auch Olli muss sich neu orientieren. Wieder zurück in sein altes Leben kommt für ihn nicht in Frage. Zu stark die Verbindungen, die er im Tal geknüpft hat, mit Helfern und Betroffenen. Zu offensichtlich der immer noch omnipräsente Bedarf an Hilfe.

Betroffene hart getroffen

Bei manchen ist es die Grundversorgung, die immer noch nicht sicher gestellt ist, bei anderen die seelsorgerische Komponente, wiederum andere freuen sich über handwerkliche Hilfe. Die Reduktion der Versorgungsstationen hat viele Betroffene hart getroffen. Weinend standen gerade ältere Menschen vor Olli und seinem Team. Vielen hatten sie neuen Lebensmut gegeben, eine Anlaufstelle, ein Zeichen, ihr seid nicht allein. Dieses möchte er auch in Zukunft setzen. Hat Suppenkelle und Kochschürze gegen seine Malerkleidung getauscht, hilft Betroffenen mit handwerklichen Gefälligkeiten beim Wiederaufbau, wohnt in einem Flut geschädigten Haus, bringt sich bei den Renovierungsarbeiten ein.

“Wenn Dir eine 76-Jährige aus tiefer Dankbarkeit um den Hals fällt oder dir ein 11-Jähriger ein Bild schenkt mit den Worten ,Danke, dass Du da bist. Danke für Deine Hilfe’, dann weißt du, du bist zur richtigen Zeit am richtigen Ort.”