Ahrtal

Das Erlebte hat ihn verändert: Seelsorger Jörg Meyrer hat vielen Menschen seit der Flut beigestanden

Von Anke Mersmann
Seit gut 20 Jahren ist Jörg Meyrer als Pfarrer im Ahrtal tätig. Als Seelsorger war und ist er seit der Katastrophe besonders gefordert.
Seit gut 20 Jahren ist Jörg Meyrer als Pfarrer im Ahrtal tätig. Als Seelsorger war und ist er seit der Katastrophe besonders gefordert. Foto: Jens Weber

Den Wassermassen konnte auch Jörg Meyrer nichts entgegensetzen, so sehr er sich um Kirche und Pfarrhaus mühte. Den Urgewalten musste er sich ergeben wie so viele Menschen in diesen fatalen Stunden, die das Ahrtal in die Katastrophe reißen sollten. In der Nacht von der Flut geschlagen, kämpft Meyrer seither gegen ihre Folgen an.

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Als Pfarrer und Seelsorger in Bad Neuenahr-Ahrweiler half und hilft er nicht nur praktisch, sondern steht den Menschen auch in seelischen Nöten bei. Jüngst hat er über seine Erfahrungen ein Buch mit dem Titel „Zusammenhalten – Als Seelsorger im Ahrtal“ veröffentlicht. Darin lässt er die Zeit seit der Flut Revue passieren – und tut dies nun auch im Gespräch zum Jahrestag der Flutkatastrophe.

Ein Jahr ist seit der Flut vergangen. Ist der Zeitraum für Sie greifbar?

Es ist wie mit allem, das sehr intensiv ist: Auf der einen Seite vergeht die Zeit rasend. Aber wenn man zurückschaut, wirkt alles unfassbar voll. Das ist mir umso klarer geworden, als ich das fertige Buchmanuskript gelesen habe. Es ist unglaublich, was man – ich sage bewusst man, weil es vielen im Tal so geht – alles gemacht hat.

Zum Beispiel?

All die Hilfsaktionen, die wir in dieser unglaublichen Dichte organisiert und koordiniert haben. Oder sechs Wochen ohne Wasser und Strom zu leben. Es ist alles völlig verrückt gewesen. Oder plötzlich wurde ich notgedrungen Statikfachmann für Kirchtürme.

Und da waren natürlich all die seelsorglichen Fragen. Was wir allein schon im Zusammenhang mit Beerdigung geregelt haben – es war ungeheuer viel. Von daher: Ein Jahr ist vorüber, es gilt zu würdigen, was alles geschafft wurde. Und es ist wohl der letzte Attraktionspunkt, der dem Ahrtal noch gilt. Danach wird es in der überregionalen Presse still werden.

Löst dieser Gedanke Befürchtungen bei Ihnen aus?

Die Welt dreht sich weiter. Das ist Realität. Wenn wir eins gelernt haben, dann, dass wir mit Realitäten leben müssen. Schwierig finde ich den Gedanken des Vergessenwerdens vor allem mit Blick auf die Hilfe und Unterstützung, insbesondere auf die Gelder, die so schleppend ausbezahlt werden. Ich fürchte, dass dieses mühsame Geschäft, in dem wir immer noch stecken, aus der allgemeinen Wahrnehmung fällt. Es ist schwierig im Tal, und es bleibt noch lange schwierig. Zumal die Zerstörung nicht nur unsere Häuser getroffen hat, sondern auch unsere Seelen. Da ist längst nicht alles aufgearbeitet.

Als Seelsorger haben Sie von vielen Schicksalen erfahren, und Sie mussten die Flutnacht und ihre Folgen selbst durchstehen. Woher nehmen Sie die Kraft, all das zu kanalisieren?

Danke, dass Sie danach fragen. Auch ich bin kein Superman. Aber ich weiß, zu welchen Quellen ich gehen muss, um Kraft zu schöpfen: Ich muss bei mir sein, bei Freunden, bei Gott. Ich muss in der Natur sein. Das ist die Kurzfassung. Wenn eine dieser Stützen längere Zeit wegbricht – das ist nach der Flut der Fall gewesen –, laufen die Akkus nicht mehr voll. Dann wird es schwierig.

Wichtig ist: Wir brauchen immer wieder Momente der Normalität. Das haben uns Psychologen kurz nach das Katastrophe geraten. Es hilft zu normalisieren. Sich in den Garten zu setzen, die Vögel zwitschern zu hören, im Wald zu spazieren, das ist etwas Normales, und das braucht die Seele. Sie muss raus aus dem Chaos. Insofern war ich froh, dass ich nach der Flut zum Beispiel jede Nacht in meinem Bett schlafen konnte. Es war ein kleines Stück Normalität – das viele andere leider nicht hatten. Normalität gibt Sicherheit. Wir machen es ja bis heute, dass wir der Katastrophe Stück für Stück Normalität entreißen.

Aus der Trauerarbeit ist bekannt, dass der erste Todestag besonders schwer für Angehörige ist. Was leiten Sie daraus für den Jahrestag der Flut ab?

Wir haben von der Gemeinde entschieden, dass wir still durch den Tag begleiten möchten. Wir möchten dort sein, wo die Menschen sind – wir werden also, so wie wir es auch nach der Flut getan haben, auf den Straßen sein. Natürlich werden wir auch Gottesdienste mit Angehörigen der Verstorbenen feiern. Wie die Menschen im Tal mit dem Tag umgehen – das wird unterschiedlich sein. Es wird solche geben, die noch einmal zusammenbrechen. Es werden Tränen fließen in Erinnerung. Aber es darf auch ausgelassen gefeiert werden – wir müssen doch auch das Leben feiern! Dieser Jahrestag wird von allem etwas mit sich bringen. Es werden sich auch viele dem Ganzen entziehen und das Tal rund um den Jahrestag verlassen: Noch mal an alles erinnert zu werden – das ist für viele unerträglich.

Im Buch schreiben Sie über Schicksale und Trauer, aber insgesamt ist es geprägt von Hoffnung und Dankbarkeit. Da sind die Helferinnen und Helfer, denen Ihr Dank gilt, aber Sie ziehen auch viel aus der Gemeinschaft, zu der das Tal zusammenwuchs. Trägt dieser Gemeinschaftsgedanke das Tal über den Jahrestag und darüber hinaus?

Ich hoffe es. Wir müssen doch irgendwas aus dem Wahnsinn lernen und Gutes herausziehen! Ich hoffe, dass dieses Wir-stehen-Zueinander bleibt. Aber klar: Auch da geht der Alltag drüber. Dennoch: Wenn das Stichwort „SolidAHRität“ etwas ist, was wir in die Welt hineintragen, haben wir etwas gewonnen.

Ich möchte zwei kurze Passagen aus Ihrem Buch zitieren und Ihre Gedanken dazu hören, hier die erste: „Dankbarkeit öffnet das Herz, vertreibt Jammer und Kummer, lässt Gutes erahnen.“

Das ist die Erfahrung, dass Dankbarkeit Licht in das Dunkel der Seele und des Herzens bringt. Sobald ich dankbar sein kann, gucke ich auf etwas Helles, das baut die Brücke ins Leben hinein. Es hat uns im Tal geholfen, dass wir in der Not dennoch so viele Möglichkeiten hatten, dankbar zu sein. Ob man den Dank jetzt an Gott richtet, den Menschen nebendran, an das Weltall oder das Geschick, das ist völlig egal. Aber Dankbarkeit führt ins Leben zurück.

Die andere Passage lautet: „Mit den kleinen Schritten, die die Normalität für unser Leben der Katastrophe zurückerobern kann, kam in kleinen Schritten auch das Beten zurück – allerdings anders. Weil ich anders geworden bin.“

Kurz nach der Flut schrieb ich auf Facebook, dass ich nicht mehr beten kann. Das hat die Boulevardpresse verkürzt ausgeschlachtet, ohne auf die Gründe einzugehen. Aber: Ja, ich bin anders geworden.

Rückblickend kann ich sagen, dass sich seit der Flut mein Menschenbild und mein Gottesbild verschoben haben. Ich habe Gott viel mehr unter den Menschen erfahren, deshalb ist auch mein Beten anders geworden. Aber ich bin wegen der Katastrophe auch viel vorsichtiger geworden, von Gott und seiner Nähe zu sprechen.

Können Sie das bitte genauer erklären?

In der Flut haben Menschen unterschiedliche Erfahrungen mit Gott gemacht, manche sind ins Zweifeln gekommen, andere haben mir gesagt: Wenn man jetzt nicht glaubt, wann dann? Es gibt viele unterschiedliche Formen, wie Menschen Gott erfahren – oder ihn halt auch gar nicht entdecken. Deshalb bin ich vorsichtiger geworden, von Gott und seiner Gegenwart zu sprechen, weil ich niemanden überrollen möchte.

Was hat Sie dieses Jahr seit der Katastrophe noch gelehrt?

Wir können als Menschen mehr, als wir uns zutrauen, und es geht immer weiter.