Das macht Bereitschaftspflege
Zwei Herzen auf Abruf: Wo Kinder sofort Hilfe bekommen
Christina U. (links) und Jana S. (2. von rechts) mit ihren Kindern besprechen mit Sabine Quirmbach (rechts) vom Pflegekinderdienst die derzeitige Situation der Bereitschaftspflegekinder.
Camilla Härtewig

Als Bereitschaftspflegemütter kümmern sich zwei Frauen in einem kleinen Westerwälder Dorf um Kinder auf Zeit. Eine fordernde Aufgabe, die sie aber erfüllt. Mit Liebe, Sinn und Zufriedenheit.

In einem kleinen Ort im Westerwaldkreis klingelt das Telefon. Draußen zwitschern die Vögel, auf der Koppel wiehert ein Pferd. Im Garten sind lachende Kinder zu hören. Idylle pur, doch am anderen Ende der Leitung ist der Pflegekinderdienst des Jugendamtes. Ein Kind muss schnell aus einer schwierigen familiären Situation geholt werden. Es braucht jetzt Schutz, Geborgenheit, einen sicheren Ort. Wenige Stunden später öffnet sich eine Tür, ein Hund begrüßt den kleinen Neuankömmling freudestrahlend, Kakao dampft auf dem Tisch. So kann ein Willkommen im neuen Zuhause auf Zeit aussehen.

Jana S. und Christina U. (Namen der Redaktion bekannt) sind enge Freundinnen, die die Liebe zu Pferden, zum Tanz und zur Natur verbindet. Vor allem aber sind die beiden begeisterte Mütter und möchten ihre Liebe und Fürsorge nicht nur ihren leiblichen Kindern zukommen lassen, sondern auch Mädchen und Jungen in Notsituationen helfen. Die beiden Frauen und ihre Ehemänner sind sogenannte Bereitschaftspflegeeltern – und bieten Fürsorge auf Abruf. Sie wohnen im selben Dorf und unterstützen sich wechselseitig. Sabine Quirmbach vom Pflegekinderdienst des Westerwaldkreises arbeitet eng mit anderen Abteilungen des Jugendamtes und auch mit der Polizei zusammen. Sie betont: „Wir sind so froh, dass wir diese beiden Familien haben.“

Pflegemutter Jana nimmt am liebsten kleine Kinder auf - gerne Babys.
dpa/Marc Tirl. picture alliance/dpa/Marc Tirl

Sie nehmen Kinder in Obhut, die vom Jugendamt kurzfristig aus ihrer Familie genommen wurden. Meist haben die Kinder eine schwere Vorgeschichte: körperliche oder seelische Gewalt, Vernachlässigung, Drogenmissbrauch im Elternhaus. Das ist auch der Grund, weshalb die beiden Pflegemütter anonym bleiben wollen. Die Pflegekinder sollen bei ihnen sicher sein. Christina hat leider schon Erfahrungen mit leiblichen Eltern gemacht, die sie verfolgt oder bedroht haben, weil sie ihre Kinder zurückhaben wollten. Oft kommen die Mädchen und Jungen ohne etwas – nur mit dem, was sie am Körper tragen. Was sie bei Christina und Jana finden, ist dann mehr als ein Dach über dem Kopf: Es ist Zuwendung, Struktur, Wärme.

„Ich wollte schon immer Mama sein“, erklärt die vierfache Mutter Jana, die zudem noch ein Pflegekind hat. Doch das reicht ihr nicht. Ihre Kraft und Liebe reichen für weitaus mehr Kinder. Die 31-Jährige sagt: „Ich liebe Babys. Sie passen besser in den Alltag und bedeuten weniger Aufwand, auch wenn man natürlich nachts öfter raus muss. Meist sind sie auch weniger traumatisiert. Ich will einfach helfen und diesen kleinen Menschen einen guten Start in ein schönes Leben geben.“ Zwölf Kinder hat die Familie bisher aufgenommen, darunter vier Babys. Derzeit ist ein junges Geschwisterpaar bei ihnen untergebracht. Das Mädchen kommt zu Jana und bringt ihr selbst gepflückte Gänseblümchen. „Danke, Liebes, die sind aber schön“, sagt die Mutter auf Zeit und nimmt die Kleine auf den Schoß.

Ein Pflegekind hüpft auf einem Hüpftier.
dpa/Uwe Anspach. picture alliance/dpa

„Es ist kein leichter Job“, betont Dreifachmama Christina, die auch ein Pflegekind auf Dauer aufgenommen hat. Sie selbst hat lange gekämpft, um leibliche Kinder bekommen zu können. „Mein Mann und ich sind Einzelkinder, wir haben uns so sehr eine große Familie gewünscht. Und es war hart, als wir dachten, dass dieser Traum unerfüllt bleibt.“ Eine Erfahrung, die ihr gezeigt hat, dass jedes Kind wertvoll ist. Ihre Familie ist eine von zwei im Kreisgebiet, die per Rufbereitschaft jederzeit bereit ist, ein Mädchen oder einen Jungen aufzunehmen.

Die 46-Jährige betont: „Du weißt nie, was dich erwartet. Manchmal kommt ein Kleinkind, manchmal ein Jugendlicher. Jedes Kind bringt seine eigene Geschichte mit – und seinen Schmerz.“ Doch trotz aller Herausforderungen empfindet sie ihre Aufgabe als Berufung. „Wir können das Leid nicht ungeschehen machen, aber wir können den Kindern zeigen, dass es Menschen gibt, die sich kümmern. Bedingungslos.“

„Natürlich wird beim Abschied viel geweint.“
Die Pflegemütter Jana und Christina haben das Loslassen gelernt. Trotzdem wird am Anfang getrauert, wenn ein Kind die Familie wieder verlässt.

Die beiden Frauen arbeiten eng mit dem Jugendamt zusammen, sind geschult im Umgang mit traumatisierten Kindern und stehen unter ständiger beratender Begleitung. Zu Sabine Quirmbach vom Pflegkinderdienst haben sie ein vertrauensvolles und freundschaftliches Verhältnis. Selten kommt es vor, dass die Mütter zu einem Kind Nein sagen. „Wir müssen aber stets auch unsere eigenen Familien im Blick haben. Wenn hier das Gefüge zu zerbrechen droht, weil wir ein Kind aufnehmen, das nicht zu uns passt, dann geht das nicht.“ Beide sind schon an ihre Grenzen gestoßen, weil ein Kind aggressiv war oder der Förderbedarf zu groß war. „Da muss man dann ehrlich zu sich sein“, so Jana.

Reich wird man als Pflegeeltern nicht. „Das ist bezahltes Ehrenamt“, betonen beide. „Ich habe monatelang für sieben Leute mit der Hand gespült, weil das Geld für eine Spülmaschine nicht da war“, berichtet Christina. „Das ist dann halt so. Aber unsere Schützlinge sind immer genauso gut gekleidet wie unsere eigenen Kinder. Ihnen soll ja nicht auf der Stirn stehen: Pflegekind“, ergänzt sie. Sie muss jeden zweiten Tag für 180 Euro einkaufen gehen.

Sicherer Hafen für eine begrenzte Zeit

Wie hält man das emotional aus – das Kommen und Gehen, das ständige Loslassen? „Man lernt, das Loslassen als Teil der Aufgabe zu sehen“, sagt Christina. „Wir sind ein sicherer Hafen für eine begrenzte Zeit. Und wenn ein Kind weiterziehen kann – zu Verwandten, in eine Dauerpflegefamilie oder sogar zurück zur eigenen Familie – dann ist das ein gutes Zeichen. Aber natürlich wird beim Abschied viel geweint. Wir sind dann auch eine ganze Weile traurig. Wir wissen aber, wir machen dann Platz und geben wieder einem Mädchen oder Jungen die Chance auf einen Neustart.“

Die Kinder – zwischen 0 und 13 Jahren alt – kommen meist schnell in den beiden trubeligen Großfamilien an. Einsamkeit oder Trauer hat hier kaum Platz. Es ist immer jemand da zum Reden, Kuscheln oder Spielen. Auch nachts ist Nähe angesagt. In beiden Familien sind die Kinderzimmer abgeschafft worden, dafür gibt es Spiel- und Arbeitszimmer. Geschlafen wird im Familienbett, das vier Meter lang ist. Wer mal Ruhe will oder krank ist, weicht aufs Sofa aus. Das kommt bei den Vätern öfter vor. Zeit für sich haben die zwei Frauen nie. „Mal allein sein, lesen oder shoppen? Das gibt es bei uns nicht“, lachen sie. „Das wollen wir aber auch gar nicht.“ Christina erinnert sich: „Ich war neulich mal einen Abend allein auf der Couch im Wohnzimmer. Das war schrecklich einsam.“

Vorfreude auf das nächste Baby ist schon groß

Was die beiden Frauen antreibt, ist die Hoffnung. Hoffnung, dass jedes Kind eine faire Chance verdient – auf Liebe, auf Heilung, auf ein Leben ohne Angst. „Es geht nicht um Mitleid. Es geht um Haltung. Um Verantwortung.“ Darin sind sich beide einig. Und so bleibt das Handy immer an, und das Herz bleibt weit offen. Für das nächste Kind, das plötzlich einen Ort zum Ankommen braucht. Und das nicht nur bei Jana und Christina.

Auch ihre eigenen Kinder freuen sich schon auf das nächste Familienmitglied auf Zeit. „Hoffentlich kommt bald ein neues Baby“, sagt Janas älteste Tochter. Und Christinas Erstgeborene ergänzt: „Wir haben ein so schönes Zuhause und eine so gute Familie, da müssen wir doch anderen Kindern, die es nicht so gut haben, helfen.“ Der Berufswunsch der 15-Jährigen steht schon fest. Sie möchte sich später als Erzieherin um Jugendliche in Wohngruppen kümmern. Der Apfel fällt halt nicht weit vom Stamm.

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