Wie eine typische Ökoverfechterin sieht die 41-Jährige jedoch nicht aus, als sie aus ihrem Kleinwagen steigt: Schwere schwarze Schnürboots, Jeans mit auffälligen Nähten, beigefarbener Oversized-Mantel und eine Wollmütze, unter der blonde Strähnen hervorschauen – dazu ein offenes, sympathisches Gesicht: „Hallo”, sagt sie lächelnd. In den nächsten eineinhalb Stunden wird sie beim ständigen Inbewegungbleiben zwischen den Lost Places auf dem Areal von ihrem Label Amaran Creative erzählen.
Zunächst geht es in einen der drei großen Bunker. Hier will Schlemmer ihre Kollektion kontextualisieren. Ihre Worte hallen hart von den Betonwänden wider, der schlauchartige Raum mit dem niedrigen Gewölbe steht aktuell leer. Schlemmer hat vor, darin „die Missstände in der Textilproduktion“ mit einem Berg an Kleidung zur Schau zu stellen. Er soll symbolisch für die jährlich 400.000 weggeworfenen Tonnen Textilien in Deutschland stehen. Zudem soll Fotomaterial das Vorher/Nachher ihrer Mode veranschaulichen, also demonstrieren, „aus welchen Kleidern ein Stück upgecycled wurde”.
Es sei ihr ein großes Anliegen, Menschen für das Überangebot in der Bekleidungsindustrie zu sensibilisieren und Upcycling-Mode als Alternative vorzustellen. Pro neu hergestellter Tonne Kleidung werden schließlich laut Öko-Institut 200 Tonnen Wasser verschmutzt. Neben der Ausstellung im Bunker soll es an den Wochenenden einen Amaran Creative Pop-up-Store geben, einen Verkauf von Schlemmers Mode im Café des b-05. Etwas enttäuscht erzählt sie, dass das Ganze wegen Corona kürzlich von Ende April, Anfang Mai auf Juni, Juli verschoben wurde.
Sinah Schlemmer, 1980 in Koblenz geboren, hat den Westerwald, wo sie aufwuchs, früh verlassen. Mit 18 ging sie für die Ausbildung zur Bühnentänzerin nach London, nach einigen Engagements in Deutschland der Liebe wegen nach Kapstadt. Das war 2004, in einer Zeit, als man dort weißen Blondinen kaum eine Rolle zusprach. So arbeitete Schlemmer unter anderem als Choreografin für Modenschauen wie etwa die Sports Illustrated Swimwear Show. Besonders stolz ist sie rückblickend auf ihren Part als Tänzerin im Bollywoodfilm „Aitraaz“. „Das war wirklich einer der Höhepunkte in meiner Tanzkarriere”, schwärmt sie.
Zurück in Europa schlug die damals 25-Jährige beruflich ein neues Kapitel auf. Sie nahm zunächst einen Job als Flugbegleiterin an, um mehr von der Welt zu sehen, und begann 2005 ein Marketingstudium in Wiesbaden. Von den USA fasziniert, absolvierte sie 2007 das letzte Semester in Miami.
Hier gibt es mehr Infos
Weitere Informationen zur Arbeit von Sinah Schlemmer und ihrem Modelabel gibt es online unter www.amarancreative.com. Die Ausstellung im b-05 Kunst- und Kulturzentrum in Montabaur ist – Stand jetzt – vom 25. bis zum 27. Juni sowie vom 2. bis zum 4. Juli geplant.
Danach fügten sich die Ereignisse wie Perlen zu einer Kette: Über ein Praktikum bei The Ski Channel wurde sie Marketingmanagerin des Senders, den ihr Chef seinerzeit aufbaute. Kurz nach dem Projekt lancierte sie ihre eigene Skikleidermarke Skihoe, abgeleitet von ihrem Mädchennamen Hoenig. Das schien so provokant wie passend. Denn das Fahren auf den seinerzeit neu lancierten Twin-Tip-Skiern, mit denen man plötzlich rückwärts gleiten konnte, beschrieb eine Lebensart (Freeskiing), der noch der passende Look fehlte.
„Diese Leute mussten sich von den anderen Skifahrern und vor allem den Snowboardern abheben”, erklärt die Gipfelstürmerin. Zu diesem Life- und Skistyle entwarf sie die Mode, ließ sie in Vietnam produzieren und bewarb ihre Entwürfe selbst auf Twin-Tip-Skiern stehend. Dann aber erlitt sie einen Skiunfall: Gerissene Kreuzbänder, Meniskusschaden, eine traumatische Verletzung und die fehlende Energie weiterzumachen waren die Folgen. An dieser Stelle trat ihr heutiger Ehemann in ihr Leben. Schlemmer bekam ihren ersten Sohn und ging mit ihrer Familie 2014 in den Westerwald nach Welschneudorf zurück, wo 2016 ihr zweiter Sohn zur Welt kam.
Heute ist die Weltenbummlerin 41 und erneut von Aufbruchstimmung erfüllt. So zumindest der Eindruck, wenn sie von ihrem Label erzählt: Die Idee dazu zündete vor circa fünf Jahren beim Ausmisten von Kleiderschränken. „Aus dem Berg an Textilien musste man doch etwas machen”, erinnert sich Schlemmer lautstark. Gehäkelt und genäht hatte sie ohnehin viel für ihre Kinder. Der Fingerübung setzte sie 2017 einen Kurs bei Liana von Sperbers Fashion-Express drauf, wo sie professionell nach Schnittmustern Kleider zu fertigen lernte.
In Zeiten von Fast Fashion, Klimawandel und moderner Sklaverei findet Schlemmers Idee zunehmend Zuspruch. Etliche Menschen möchten mit dem Kauf eines Kleidungsstücks ein Signal setzen, Umwelt- mit Modebewusstsein verbinden. Schlemmers Label bietet beides. Gleichzeitig merkt sie an, dass Upcycling-Mode in der Produktion aufwendiger sei. Schließlich muss sie hierfür erst einmal alle Nähte auftrennen, die Stoffreste sortieren und das angestrebte Stück neu zusammennähen. Diese Puzzleproduktion erfordere wesentlich mehr Zeit, als aus einer Stoffbahn nach Wunschmaß etwas zu schneidern. Doch erst diese Methode sorge für die kreative Zündung in ihrem Kopf.
Wer ihrem Instagram-Account folgt, kann nachvollziehen, wie Schlemmer Stoffen zum zweiten Leben verhilft. Für ihre Shootings steht sie oft selbst Modell – was erfrischend authentisch rüberkommt und auf einer Plattform, die junge Frauen mit unzähligen Posts zur Fast Fashion geradezu antreibt, zum willkommenen Gegenschlag ausholt. Dabei haben Aufnahmen von ihr in extravaganter Kleidung, auf High Heels und mit riesigem Vintage-Koffer am ICE-Bahnhof Montabaur etwas Surreales oder Filmisches, auch Keckes.
Ob die Durchschnittsdeutsche so gestylt an den Gleisen stehen würde? Sinah Schlemmer würde es sich wünschen. Im Amaran Creative Shop finden sich unter anderem Jeans mit auffälligen Nähten und Potaschen, Handtaschen aus Daunenjacken und knallbunten Stoffresten, ein eng anliegendes Samtoberteil mit transluzenten Puffärmeln. Gerade schneidert Schlemmer, so erzählt sie zum Ende des Waldspaziergangs, ein Cocktailkleid aus einem neongrünen Campingstuhlüberzug. In New York würde man sich um dieses Kleid reißen, ist die Designerin überzeugt.