Schlag gegen die Gruppe Zinhain der Bibelforscher 1936/37
Vermutlich war Louis Pfeifer der Geheimen Staatspolizei Frankfurt/Main am 14. November 1936 aufgefallen, als sie Otto Becker in Steinperf festnahm, den Pfeifer am selben Tag aufgesucht hatte. Pfeifers Verhaftung als Schlüsselfigur löste eine koordinierte „Gross Aktion“ im Gebiet um Marienberg aus, die ein eingerichtetes „Sonderkommando“ der Politischen Polizei betrieb. Die erhaltenen Vernehmungsprotokolle offenbaren, dass verschärfte Verhörmethoden angewandt wurden.
Es gelang der Gestapo, 33 Teilnehmer illegaler Versammlungen der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung (IBV), wie man damals die Zeugen Jehovas nannte, aus Zinhain und Umgebung ausfindig zu machen. Am 13. Dezember 1936 griffen Gestapo-Beamte, lokale Polizei, SA und SS zeitgleich zu und nahmen 12 Westerwälder unter dem Verdacht der Betätigung für die verbotene IBV in Schutzhaft. Heinrich Klimaschewski erinnerte sich 1971, dass bei seiner Verhaftung „die ganze Wohnung durchsucht, Betten ausgeräumt, Öfen untersucht, Schränke durchwühlt“ wurden. Weitere Gestapo-Verhöre fanden in Frankfurt und Marienberg statt.
Rückblick: Verbot und erste Verfolgungen 1933 bis 1935
Schon recht schnell nach Hitlers Machtübernahme waren die Zeugen Jehovas durch das NS-Regime verboten und verfolgt worden. Sie beteiligten sich nicht an Wahlen, wurden nicht Mitglied der NS-Organisationen, lehnten den „Hitler-Gruß“ ab und verweigerten später auch den Wehrdienst.
Trotz des Verbots durch den preußischen Innenminister vom 24. Juni 1933 traf sich die in den frühen 1920er-Jahren um den Großhandelsvertreter Werner Schneider (aktenkundige Spitznamen: „Gelee-Werner“ und „Kräutsches-Werner“) entstandene Gemeinschaft in Zinhain seit Herbst 1934 wieder zu heimlichen wöchentlichen Zusammenkünften bei Heinrich Klimaschewski, Jakob Remmy, Heinrich Schütz und Heinrich Schmidt.
Das kleine Dorf Zinhain sah der Gestapo-Beamte Pracht „trotz seiner geringen Einwohnerzahl keinesfalls als auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung stehend“. In einer anderen Notiz heißt es: „Um den Oberwesterwaldkreis […] von dieser Seuche [der IBV] zu befreien, müssten exemplarische Strafen verhängt werden.“ Da die Bibelforscher nur in relativ kleinen Gruppen agierten, war die zunächst wenig erfolgreiche Gestapo auf Hinweise von Landrat, Bürgermeister, NSDAP-Ortsgruppenleiter und Gendarmerie angewiesen.
So bildeten zum Beispiel die Zeugenaussage des Alpenroder Gemeindedieners über eine „Bibelbesprechstunde“ auf der Hirtscheider Talmühle 1935 oder Meldungen der Gendarmen aus Hachenburg und Kirburg über eine Grabrede eines Zeugen Jehovas bei einer Beerdigung in Korb 1936 Anhaltspunkte. Auch die Postämter in Marienberg und Hachenburg leiteten private Sendungen an die Polizei zur Einsicht weiter.
Louis Pfeifer, der bis 1934 auch in der deutschen Zentrale der Bibelforscher in Magdeburg verkehrte, verbreitete seit Herbst 1935 in Zinhain, seit Oktober 1936 im weiteren Umfeld als reisender Vertreter Schriften, darunter die Zeitschrift „Wachtturm“. Ähnlich verfuhr sein Arbeitgeber, der Kaufmann Heinrich Klimaschewski. Schon kurz nach dem Reichsverbot vom 1. April 1935 legte die Gestapo für letzteren eine Karteikarte als „eifrige[n] Bibelforscher“ an, zumal er als „Dienstleiter“ in Zinhain seinem Schwager Werner Schneider nachgefolgt war.
Unterstellt wurde den Zeugen Jehovas eine Nähe zum Kommunismus und die Förderung von ausländischer Hetzpropaganda gegen den NS-Staat mittels gesammelter „Gute Hoffnungsgelder“. Im Dezember kam es vor einem Sondergericht in Frankfurt/Main wegen einer illegal abgehaltenen Bibelforscher-Versammlung zu Verfahren gegen sechs Männer aus Alpenrod, Hirtscheid, Langenbach b. M. und Zinhain, bei denen die Beweise für eine Verurteilung noch nicht ausreichten.
Anders sah es nach Pfeifers Verhaftung 1936 aus, die in eine erste reichsweite Aktion einzuordnen ist. Mehrfach wurde der Kurier befragt und Glaubensgenossen gegenübergestellt. Das Sondergericht Frankfurt/Main verhandelte im April 1937 und verfügte im Hinblick auf die Westerwälder Beschuldigten neben zwei Freisprüchen zehn Verurteilungen zu Gefängnisstrafen zwischen drei Monaten und einem Jahr. Vor weiteren Festnahmen schreckte die Gestapo kurzzeitig wegen befürchteter familiärer Härtefälle zurück, beantragte dann aber im Februar 1937 sechs weitere Haftbefehle.
Im Juli fanden dann auch Prozesse in Frankfurt gegen sieben weibliche Verwandte statt. Mit der Haftverbüßung endete für den größten Teil der Gefangenen ihr Leidensweg nicht, sondern verschärfte sich. Nach einem Erlass des preußischen Geheimen Staatspolizeiamtes vom 22. April 1937 waren sämtliche IBV-Anhänger nach beendeter Haft unverzüglich in Schutzhaft zu nehmen und die Überführung in ein Konzentrationslager (KL) war zu beantragen.
So durchliefen die im Februar 1937 festgenommenen Otto Rosche und Karl Schmidt aus Korb sowie Hermann Künz aus Fehl-Ritzhausen mit Lichtenburg noch ein KL, aus dem sie nach dessen vorläufiger Schließung nach Buchenwald deportiert wurden; von dort wurden sie zwischen Oktober und Dezember 1938 entlassen.
Karl Schmidt äußerte damals: „Wenn sie uns nochmal holen, kommen wir nicht wieder zurück.“ Die meisten Bibelforscher – Wilhelm Panthel (Hirtscheid), Jakob Remmy, Heinrich Schmidt und Heinrich Schütz (jeweils Zinhain), Wilhelm Schütz (Eichenstruth), Friedemann Stahl (Alpenrod) und Karl Steup (Marienberg) – wurden 1937 direkt ins im Aufbau befindliche KL Ettersberg/Buchenwald überführt und waren teilweise zusammen in einem Block untergebracht.
Der Autor
Unser Gastautor Dr. Markus Müller aus Nister ist als Oberstudienrat am Mons-Tabor-Gymnasium Montabaur mit den Fächern Deutsch und Geschichte tätig. Er wurde mehrfach mit seinen Lerngruppen für innovative Unterrichtsprojekte ausgezeichnet und erhielt 2009 aus den Händen von Bundespräsident Köhler den Deutschen Lehrerpreis.
Heinrich Klimaschewski kam 1938 hinzu, während Jakob Remmy und Wilhelm Schütz wieder freikamen. Die Solidarität untereinander war ein nicht zu unterschätzender Vorteil, um zu überleben, galt Buchenwald doch als tödlichstes KL in dieser Zeit. Die Bibelforscher stellten damals mehr als 10 Prozent der dortigen Insassen. Unter den Frauen wurden Auguste Salzer (Erbach) sowie Emma Schmidt, Selma Klimaschewski, Hilda Schütz und Anna Remmy in KL verschleppt; die letzten beiden kamen um.
Die konsequente Verweigerungshaltung der Gefangenen mit dem lila Winkel auf der Häftlingskleidung reizte die SS-Schergen und führte zu rigiden Bestrafungen. Oft wurden auch die Westerwälder in Buchenwald ans Tor zum mehrstündigen Strafstehen und Essensentzug gerufen. Für Louis Pfeifer ist das für die Bibelforscher übliche erste Vierteljahr schwerster Zwangsarbeit in einer Sonderabteilung gesichert belegt, die 10-12 Stunden täglich im Laufschritt und unter Quälereien zu verrichten war.
Selma Klimaschewski erinnerte sich an einen fünftägigen Stehappell und einen dreitägigen Dunkelarrest im KL Ravensbrück. Ihr Mann Heinrich wurde 1939 mit auf dem Rücken gefesselten Händen an einem Baum einen halben Meter über dem Boden für 30 Minuten aufgehängt (Pfahlhängen), weil er ein Stückchen Brot während der Arbeitszeit gegessen hatte. Auch mit dem „Bock“ in Buchenwald, auf dem die Gefangenen zur Strafe beim Appell ausgepeitscht wurden, machte er Bekanntschaft.
Ausschaltung der Gruppe Borod der Bibelforscher 1942
Auch an der westlichen Randzone des Oberwesterwaldkreises war eine kleine Bibelforschergruppe rund um Helene Meutsch aus Borod tätig, die im März 1937 vom Kölner Sondergericht in Koblenz zusammen mit ihrem Ehemann Gustav zu einem Monat Gefängnis verurteilt wurde. Ihre Aktivitäten erfolgten in Kontakten zu ebenfalls bestraften Glaubensgenossen aus den Kreisen Neuwied und Altenkirchen.
Nach einer erneuten Festnahme am 18. März 1942 erhielt Meutsch vom Sondergericht Frankfurt/Main eine einjährige Gefängnisstrafe, die am 8. Juli 1943 im KL Ravensbrück fortgesetzt wurde. Mit der gleichzeitigen Verhaftung ihrer Tochter Paula, Auguste Knautz und Emma Nies sowie Luise Schmidt im April 1942 wurde die Gruppe Borod von der Gestapo zerschlagen.
Die Befreiung 1945 und ihre Nachwirkung
Die meisten der 1937/38 verhafteten Zeugen Jehovas aus dem Westerwald wurden erst 1945 von alliierten Soldaten aus ihren Konzentrationslagern befreit. Abgesehen von ersten Nachforschungen zu Einzelschicksalen durch Günter Heuzeroth, Klaus Wüst und Dr. Uli Jungbluth hat sich kaum jemand für das Leid der Zeugen Jehovas in der Region interessiert.
Gerade schulische Bildungsarbeit vermag dazu beizutragen, dass zahlreiche, noch verdrängte Verfolgungsschicksale aus der Region nicht in Vergessenheit geraten. So gewinnt aktuell der Leistungskurs Geschichte der Jahrgangsstufe 12 am Mons-Tabor-Gymnasium Montabaur anhand der umfangreichen gesicherten Materialien einen Einblick über Vertreter aller Opfergruppen aus dem Westerwald – auch jenseits der bereits bekannten jüdischen und politisch Verfolgten.
Gastautor Dr. Markus Müller