Es ist morgens gegen halb zehn. Der 28-Jährige kommt aus Wissen und hat gerade seine Wasserflaschen in einer Metzgerei zwischen Mudenbach und Wahlrod aufgefüllt. Während er auf der davorstehenden Bank sitzt – im Geschäft ist es ihm zu warm in seiner Kluft aus weißem Hemd, schwarzer Schlaghose, Weste, Jacke und Hut – , kommt ein Mann auf ihn zu, Karl-Willi Krug aus Mudenbach. Bei dem sich entwickelnden Gespräch erzählt der Wandergeselle, dass er weiter nach Neuwied muss.
Dort wird er sich abends mit zwei Kameraden treffen, von denen einer aufgrund einer Wette die gesamte Strecke von Olpe bis Bernkastel-Kues zu Fuß laufen will. Ein Zeichen habe er in Wissen hinterlassen, damit sein Kamerad weiß, dass er schon einmal aufgebrochen ist, wird Berger später erzählen. Wo das war und wie das Zeichen aussieht? „Das verrate ich nicht“, lacht er.
„Das ist jedes Mal wieder superschön, so herzlich aufgenommen zu werden.“
Zimmerergeselle Christoph Berger
Nach Neuwied müsse er sowieso gleich, wegen eines kaputten Sonnenschirms, erzählt Karl-Willi Krug und lädt Christoph zum Mitfahren und vorher bei sich zu Hause zum Frühstück ein. Der sagt zu; sein überraschtes Lachen zeigt, wie sehr er sich freut. „Das ist jedes Mal wieder superschön, so herzlich aufgenommen zu werden“, gibt er zu. Einen zusätzlichen Ring Fleischwurst später fahren die beiden Männer los. Im Haus der Familie Krug sitzt Christoph schnell mit Karl-Willi, dessen Frau Julia und den Kindern Mariella, Lilli und David am gedeckten Tisch. Bei Kaffee und Mettbrötchen erzählt der 28-Jährige von sich.
Nach seinem Spitznamen für die Reise gefragt, schmunzelt der Zimmerergeselle. „Potter“ werde er von seinen Kameraden genannt, nach dem Ruhrpott, nicht nach dem Zauberer. Zauberhaft ist dennoch, was er seit dem 12. September 2021 auf den Wegen und Straßen erlebt hat. Laufend und trampend erkundete er zunächst ein Jahr Deutschland, die Schweiz und Österreich, „um die Gebräuche und die Straße kennenzulernen“, erklärt Christoph den jahrhundertealten Einstieg.
Anfangs mit „Abschiedsgeld“ von Familien und Freunden versorgt, arbeiten die Gesellen auf der Walz mal hier und mal da, was leicht sei: „Wir werden mit Arbeit zugeworfen.“ Nach Polen, zu Fuß übers Riesengebirge nach Prag, Wien und von dort über Ungarn nach Rumänien führte Christophs Weg weiter. In Sibiu, dem ehemaligen Hermannstadt, gebe es ein jährliches Gesellenprojekt der evangelischen Kirche, wo die Handwerker auf der Walz sanieren halfen.
Während der zweieinhalb Monate, die er dort gewesen sei, habe er unter anderem unter gefährlichen Bedingungen ein Kirchendach repariert. „Auf einer Ausziehleiter und unter dir waren 15 Meter nichts“, schmunzelt der Handwerker in der Erinnerung. Wie es Tradition ist auf der Walz, darf Christoph für Unterkunft und Fortbewegung kein Geld ausgeben. „Nur wenn es auf andere Kontinente geht. Die alten Gesellen sind viel mit dem Schiff gefahren“, erklärt er. Das gehe nicht mehr. Mindestens drei Jahre und einen Tag sind die Wanderbrüder unterwegs.
Er wolle noch etwas Zeit hintendran hängen, ist sich Christoph sicher. Sein „Stenz“, der naturgewundene Knotenstock, gebe da die Dauer vor. Der knorrige Begleiter hat fünf Windungen; so lange wolle er auf der Straße sein, erzählt Potter der Gastfamilie. Dabei müsse er eine Bannmeile von 50 Kilometern rund um seinen Heimatort einhalten. Dorthin kehrt er erst nach seiner Walz zurück, „nur einmal“, wie der Wandergeselle sagt. Allein wenn jemand aus der Familie stirbt, darf er – in Begleitung – zur Beerdigung nach Hause zurückkehren, sagt Christoph: „Das ist bei mir Gott sei Dank noch nicht der Fall gewesen.“ Seine Familie habe ihn zuletzt in Hamburg besucht, wo er arbeitete.
„Im Handwerk habe ich meine Mitte gefunden, auf der Wanderschaft mein Glück und meine Zufriedenheit.“
Zimmerergeselle Christoph Berger
Als Tischler habe er in Schleswig-Holstein eine Lehre angefangen, bevor der Betrieb in die Insolvenz gegangen sei. Danach hat er seine Lehrzeit als Zimmerer abgeschlossen. „Im Handwerk habe ich meine Mitte gefunden, auf der Wanderschaft mein Glück und meine Zufriedenheit“, sagt Berger.
Ein Kollege aus der Lehre hatte ihm von der Walz erzählt; der sei in der Vereinigung der rechtschaffenen fremden Zimmer- und Schieferdeckergesellen zu Deutschland. „Schon in der Schule war ich sehr abenteuerlustig“, sagt er. Deshalb habe er sich für die Wanderschaft entschieden und sich ebenfalls den rechtschaffenen fremden Zimmer- und Schieferdeckergesellen angeschlossen.
Unterwegs treffe er auf viele Menschen und Ansichten. Durch die Wanderung werde man ruhiger, erzählt Christoph weiter: „Man hat nicht mehr so viele Stressfaktoren.“ Jeder Tag sei anders und die Störung durchs Handy falle weg. „Wir reisen alle ohne“, macht er deutlich. Anfangs habe er sich daran gewöhnen müssen, kein Mobiltelefon zu haben. „Wie lange dauert das?“, fragt Karl-Willi Krug. Etwa eine Woche habe es bei ihm gebraucht, antwortet Christoph.
„Wo schläfst du denn?“, will Julia Krug wissen. Im Schlafsack und im Biwaksack unter freiem Himmel, in Häusern der Vereinigung, Kolpinghäusern, bei Vereinen oder Privatleuten, zählt Christoph auf. Seine Kleidung wasche er in öffentlichen Waschsalons, in Bächen, manchmal auch bei Privatleuten. Und wenn etwas kaputt oder verloren geht – wie zwei seiner Hüte – kleidet sich der Zimmerergeselle in Berufsbekleidungsläden und bei Kluftschneidern ein. Von Letzteren gebe es nur noch wenige in Deutschland, sagt der 28-Jährige. Und wo duscht er sich? In Schwimmbädern, Therme, Saunen, erzählt Christoph und fügt leicht verlegen hinzu: „Heute habe ich noch nicht geduscht.“
„Tippelei ist nicht nur schöne Zeit, sondern auch Durchbeißenmüssen.“
Seit zweienhalb Jahren ist “der Potter" schon auf der Walz.
„Tippelei ist nicht nur schöne Zeit, sondern auch Durchbeißenmüssen“, wird Christoph ernst. Im Krankenhaus sei er gewesen, „weil ich durchgehauen worden bin“. Auch dem Tod sei er schon von der Schippe gesprungen, als er in Bamberg im Schlaf von einem Bootsanleger in die Pegnitz gerollt sei.
„Ein Kamerad hat mich gerettet“, ist er heute froh. In Connewitz bei Leipzig seien sie sogar verfolgt worden, aufgrund der Tradition, wie Christoph vermutet. Doch seine Kluft sei keine Uniform: „Wir repräsentieren, wenn überhaupt, das Handwerk.“ Demnächst wolle er nach Mallorca, erzählt er weiter. Nur der Hinflug sei gebucht. Spätestens an Himmelfahrt will er wieder da sein. Denn dann treffen die etwa 70 Vereinigungsbrüdern der insgesamt etwa 300 deutschen Wandergesellen auf der Walz jährlich zusammen, und da möchte Christoph Berger dabei sein. Um ihm traditionell eine gute Reise zu wünschen, könne man sagen „Fixe Tippelei“, lacht der Geselle und antwortet darauf mit einem herzlichen „Fix bedankt!“.